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Carl Büchsel, Erinnerungen an einen Todesfall auf dem Lande (1860er Jahre)

Im Gegensatz zur relativen Anonymität des Stadtlebens ermöglichten die ländlichen Gegenden weiterhin ein höheres Maß an sozialem Zusammenhalt und Anteilnahme am Gemeindeleben. In dieser Passage aus seinen Erinnerungen beschreibt der protestantische Landgeistliche und Theologe Carl Büchsel (1803-1889), wie die aufwendigen Bräuche nach einem Todesfall die Aufmerksamkeit eines ganzen Dorfes beanspruchen konnten.

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Ein Todesfall, er mag nun lange erwartet oder plötzlich eintreten, bringt immer eine Bewegung in die Gemeinde, und es wird viel darüber gesprochen. Es ist jedesmal eine Bußpredigt an die Lebendigen. In der Mittagsstunde, nachdem der Tod eingetreten ist, werden drei Pulse geläutet, so daß es im Ganzen eine Stunde dauert. Am Tage, da die Gruft gegraben wird, werden wieder drei Pulse geläutet, und am Tage des Begräbnisses werden die Glocken fast während der ganzen Leichenfeier gezogen. Fast das ganze Dorf folgt der Leiche in Trauerkleidern, wie sie während der Passionszeit getragen werden. Vorne an geht der Pastor und der Küster mit der Schule, dann kommen die Träger mit dem Sarge, hinter dem die nächsten Leidtragenden folgen und dann die ganze Gemeinde. Die Art und Weise, wie die Leichen bestattet werden, ist sehr verschieden. Mit einer Leichenpredigt wurden nur die Bauern und unter diesen besonders der Schulze, die Gerichtsmänner, Kirchen - und Schulvorsteher bestattet. Andere wurden mit einer Leichenrede vor dem Altare begraben, selten wurde eine Leiche still und ohne Glocken und ohne Gesang beigesetzt. In der Regel steht der offene Sarg auf dem Flur des Trauerhauses, der Küster mit der Schule und der größte Teil des Gefolges sind vor der Tür versammelt. Ein Sterbelied wird gesungen, dann liest der Küster einen Abschnitt aus der heiligen Schrift, gewöhnlich die bekannte Epistel aus I. Thessalonicher: „Wir wollen Euch nicht verhalten, liebe Brüder, von denen die da schlafen,“ bis zu den Worten: „so tröstet Euch nun mit diesem Worte unter einander“. Es folgt wieder ein Lied, und darauf zieht der Zug feierlich und langsam unter Gesang und Geläut nach dem Kirchhofe; wird eine Leichenpredigt gehalten, so wird die Leiche in die Kirche getragen, vor dem Altar niedergesetzt und nach Beendigung der Predigt wieder unter Gesang und Geläut zum Grabe getragen, wo der Küster anhebt: „Nun lasset uns den Leib begraben.“ Wird keine Leichenpredigt gehalten, so folgt erst die Beisetzung, und darauf gehen Alle in die Kirche, wo vom Altar aus Ansprache und Gebet die Feier beschließt. In beiden Fällen wird der sogen. Ruhmzettel, d. h. der kurze Lebenslauf des Verstorbenen verlesen. Jeder, der auf der Straße dem Leichenzuge begegnet, bleibt so lange stehen, bis er vorüber ist, hält sich den Hut vor das Gesicht und betet um ein seliges Ende. Bei jungen Leuten wird von den Altersgenossen eine Krone auf den Sarg gesetzt, die vor der Versenkung abgenommen wird und in der Kirche auf dem Altar bis zum nächsten Sonntage steht und die dann an der Wand der Kirche aufgehängt wird. Die Träger der Leiche sind die Standesgenossen, die Bauern tragen den Bauer, die Büdner den Büdner etc. Diese Ordnung ist selten in einem Dorfe ebenso wie in dem andern, es wurde aber streng am Herkommen festgehalten.



Quelle: Carl Büchsel, Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen (1865-). 10. Aufl. Berlin: Gustav Warneck Verlag, S. 274-75.

Abgedruckt in Werner Pöls, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1815-1870. Ein historisches Lesebuch, 4. Aufl. München: Beck, 1988, S. 86-87.

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