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Handwerksmeister opponieren gegen die zunehmende Fabrikarbeit in Krefeld (1870er Jahre)

Im Gegensatz zu früh industrialisierten Ländern wie England erlebte Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen massiven Wandel von kleinen Handwerksbetrieben zu großen Fabriken. Wie die Beschreibung von Webermeistern in Krefeld zeigt, war der Widerstand gegen die Fabrikarbeit heftig und lautstark. Obwohl derartiger Widerstand teils durch materielle Missstände geschürt wurde, fußte er vor allem auf dem Gefühl der Handwerker, dass die Fabrikarbeit ihre Berufsehre und Unabhängigkeit sowie jahrhundertealte Traditionen verletzte.

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Nicht unwichtig sind die im geistig-sittlichen Leben der Webermeister wurzelnden Hindernisse des Fabrikbetriebes. Sie, die erst seit dreissig Jahren ihre rechtliche Anerkennung als freie Handwerker gefunden haben, wollen diese Stellung nicht nach der Richtung eines lediglich höheren Arbeitslohnes (welchen die mechanischen Webereien ja zahlen müssen, um überhaupt geübte Arbeiter anzulocken), sondern nach der Richtung des grösseren Handwerksmeisters, des sich aufarbeitenden Unternehmers, der über immer mehr Webstühle und „Eigenthum" verfügt, verbessern. Daher ihre tiefe Verachtung aller Fabrikarbeiter, ihr Haß gegen die Fabriken, die Zwingburgen der Handwerksehre, -Freiheit und -Selbständigkeit. Lieber stirbt der Meister auf dem Brette seines Handstuhls, als in jenen Frohnhof zu wandern, und wenn er Mittags den Fabrikarbeiter sein Mahl am Grabenrande einnehmen sieht, das die Frau eine halbe Stunde weit herbeigeholt hat und dem der Mann eine halbe Stunde entgegengegangen ist, oft in Regen, Schnee und Wind, – so gibt es ihm Kraft auf Jahre hinaus, lieber bei kargem Lohne in eigenem Zimmer zu arbeiten, als zu werden, wie jener. Diese zarten Männer, sie wissen es, wie schwer der Kampf gewesen, aus Fabrikarbeitern zu Handwerkern aufzusteigen, und mit unsäglicher Trauer sprechen sie von der jungen Generation, welche für ein Mehrverdienst von ein paar Groschen ihre Freiheit und Selbständigkeit zum Opfer bringt. Gerade für diese älteren Weber, schon kränklich und nicht mehr zu andauernder Arbeit fähig, eignet sich die Hausweberei in eigenem Zimmer vortrefflich. So findet der technische Fortschritt Gegner in den Gehülfen selbst, auf welche er sich stützen sollte, und begegnet mehr Opposition in den Personen als in den Verhältnissen. Allein solche Gefühle, so ehrenwerth sie auch sein mögen, halten den Siegeslauf des Dampfes nicht auf, sie könnten vielleicht zu der traurigen Folge führen, dass der rauchende Schlot statt in Crefeld seinen Standort in der Schweiz oder in England findet. Andere Menschen haben dort andere Gefühle, Dampf und Eisen sind unerbittlich gegen Handwerksehre, -Selbständigkeit und -Freiheit.



Quelle: Alphons Thun, „Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Teil 1: Die linksrheinische Textilindustrie“, in Staats- und Sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 2 (1879), Heft 2, S. 131-32.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C.H. Beck, 1982, S. 295-96.

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