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Verstädterung des Landlebens bei Lübeck seit 1870

Diese Schilderung dokumentiert die raschen sozioökonomischen und baulichen Veränderungen einer kleinen norddeutschen Ortschaft bei Lübeck. Deutlich zu beobachten ist das Anwachsen der Fabrikarbeiterschaft, der Ausbau von städtischer Infrastruktur und Massenunterkünften und sogar die Umkehrung des Naturalienhandels, der nun von den städtischen Verteilerzentralen in die Dörfer lief, die inzwischen kaum mehr als Vororte waren. In diesem Auszug wird das Gefühl von geistigem und kulturellem Verlust inmitten dieser Veränderungen ausgeglichen durch ein realistisches Eingeständnis des Profitstrebens und dessen Macht, Veränderungen selbst in angeblich rückständigen Verhältnissen zu beschleunigen.

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Bald nach dem deutsch-französischen Kriege und nach der politischen Einigung der deutschen Staaten begann eine Wandlung. Zuerst war die Veränderung kaum merkbar, weil das in Jahrhunderten langsam Gewordene Widerstandskraft hatte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Kriege sah es in der Stadt und im Dorfe nicht viel anders aus als vorher. Dann aber setzte das Neue sich um so schneller und vollständiger durch. Jedes Jahr brachte Veränderungen, und bald konnte sich keiner mehr den neuen Lebensbedingungen entziehen. Im Dorfe sogar spürte man die Baulust, die jenen Jahren eigen war. Zuerst wurden weiter oben am Flusse einige große Fabriken gebaut. Sie standen zunächst ganz kurios da mit ihren hohen Ziegelschornsteinen inmitten der Viehweiden. Aber es dauerte nicht lange, bis daneben Häuser entstanden, die zu dem Fabrikstil paßten, bis das Grün der Weiden unter großen Haufen von Kohlen, Schutt und Abfall verschwand. Mit den Fabriken kamen Menschen ins Dorf, die dort früher nie zu sehen gewesen waren, es sei denn in Feiertagskleidern als Ausflügler. Es waren Scharen jener Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich von den ländlichen und handwerklichen Arbeitern auf den ersten Blick unterschieden, weil sie nichts gelernt hatten als ein paar Handgriffe, weil kein Berufsgeist in ihnen war, weil sie zur Klasse derer gehörten, die in der Folge Proletarier genannt worden sind. Da der Weg zur Stadt weit war, stellte sich bald das Bedürfnis heraus, für diese Arbeiter im Dorfe selbst Wohnungen zu schaffen. Und da etwas Passendes nicht vorhanden war, entstanden die ersten ärmlichen Mietquartiere. Einsam im Felde erhoben sich hohe, kahle Stockwerkshäuser, in denen arme Familien schmutzig und ohne Behagen nebeneinander hausten, ein ungepflegter, schnell verwahrlosender Hof schloß sich an. Die Häuser und der Raum zwischen ihnen wimmelten von Kindern. Aber es waren Kinder einer neuen Bevölkerung. Die Armut dieser Menschen war eine andere als die Armut der dörflichen Hofarbeiter, ihr Schmutz war ein anderer, es war alles häßlicher und in der Häßlichkeit frecher. Die Industriearbeiter erschienen verkommen, auch wenn es ihnen ganz ordentlich ging; waren sie aber wirklich arm, so schien es, als sei die übelriechende Armut ihre eigenste Umwelt. Die Männer waren nicht erzogen von einem bestimmten Berufsgeist, die Frauen waren nicht Hausfrauen und Mütter, und die Kinder waren kleine Landstreicher, die in den Gärten Obst stahlen und das Korn auf den Feldern zertraten. Asche und Kehricht war verstreut, mitten im keimenden Roggen lagen rostige Blechdosen, altes Emaillegeschirr, zerbrochene Töpfe und Küchenabfall.

Die Stockwerkshäuser brauchten besondere Anlagen für Licht, Wasser und Kanalisation, weil die Zusammenballung vieler Menschen in einer Wohnkaserne eine gewisse Sorge für die Volksgesundheit erfordert. Es wurden diese neuen Häuser darum mit Wasserleitung und Gasleitung versehen. Das ganze Dorf wurde umgewühlt, um Anschluß an die weiter flußabwärts gelegenen Hauptrohre zu gewinnen. Als die Leitungen dann aber einmal lagen, ging man gleich auch zur Gasbeleuchtung der Straßen über. Und es kam schnell die Überzeugung auf, eine Wasserleitung im Hause sei bequemer als eine Pumpe im Hofe, und Gas sei vornehmer als Petroleum. Die alten Dorfbewohner ergriffen die Gelegenheit und sprachen vom Fortschritt der Zeit. Sie

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