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Wilhelm Heinrich Riehl über bäuerlichen Partikularismus: Auszug aus Die bürgerliche Gesellschaft (1851)

In dieser Textpassage aus seinem Werk Die bürgerliche Gesellschaft (1851) zeichnet Riehl ein anschauliches Bild der sich vor allem unter der deutschen Landbevölkerung hartnäckig haltenden regionalen Identitäten. So identifizierten sich noch Mitte des 19. Jahrhunderts die Bauern, „die geborenen Partikularisten“, mit jenen Herrschaftsgebieten, deren Untertanen sie einst gewesen waren, obwohl diese längst den territorialen Veränderungen im Gefolge der Französischen Revolution, der Zeit Napoleons und des Wiener Kongresses zum Opfer gefallen waren.

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Betrachten wir vorerst nur die Einflüsse der äußeren politischen Gestaltungen des 19ten Jahrhunderts. Drei- bis viermal haben sich derweil die deutschen Staatenbildungen verändert, hier und dort wurde ein alter politischer Verband gelöst, die ganze innere Geographie Deutschlands gründlich durcheinander geworfen, niemand fühlte sich durch die Gebietsveränderungen tiefer verletzt als der Bauer, und doch erschienen sie keinem Menschen unmotivirter als gerade ihm. Dem Bauern will daher die alte Geographie durchaus nicht aus dem Kopf, und die neue nicht hinein. Der preußische Westerwälder sagt nicht, er sey aus dem Regierungsbezirk Arnsberg, sondern aus dem „Oranischen;" der Bauer in der Gegend von Schwalbach nennt seine Landschaft noch heute „die Niedergrafschaft Katzenelnbogen;" der Bauer des Lahngau's ist im „Solmsischen," oder im „Weilburgischen," oder im „Wied-Runkelischen," oder im „Kurtrierischen" zu Hause; im badischen Oberlande existirt das „Hanauer Ländchen" noch immer im Sprachgebrauche des Landvolkes; dem ächten Pfälzer Bauern fällt es nicht ein, sich einen „Rheinbayern" oder „Rheinhessen," oder einen Bewohner des „badischen Neckarkreises" zu nennen. Man muthet diesen Leuten zu, „angestammte Loyalität" zu zeigen, während sie sich doch selber sagen, daß damit gerade eine Loyalität für das Nichtangestammte gemeint ist. Der Gebildete weiß, daß es so und nicht anders hat kommen müssen, wenn er auch bedauert, daß man bei dieser Staatenbildung auf der einen Seite viel zu radical, und auf der andern viel zu wenig radical verfahren ist. Der Bauer weiß das nicht. Woher auch? Ihn bestimmt eine überkommene, dunkle politische Sympathie oder Antipathie, im Kleinen ähnelnd jenem instinctiven Preußenhaß der großen süddeutschen Volksmasse und der dunkeln Abneigung des Nordens gegen Oesterreich. Der Bauer ist ein geborener Particularist, nur ist sein Particularismus kein willkürlicher, sondern historischer Tradition entsproßt. Dieser Bauernparticularismus tritt auch nicht gleich dem dynastischen und diplomatischen in offenen Kampf mit der Idee der Nationaleinheit, diese ist ihm bloß gleichgültig; der Bauer ist ein natürlicher Particularist, ein Particularist aus Beschränktheit, nicht aus Neid, Eigennutz, Eifersucht und Dünkel, wie die andern Particularisten. Aber insofern man seinen natürlichen Particularismus aufs tiefste und – wie er glaubt – grundloseste gekränkt hat, wird er Oppositionsmann gegen die bestehende Staatsgliederung. Er wird radical aus Conservatismus. Nicht bloß sein Fürst, er selber ist mit ihm mediatisirt worden. Namentlich in ehemals geistlichen Besitzthümern, wo nicht bloß der politische, sondern auch ein kirchlicher Particularismus im Bauern historisch geworden ist, finden wir es häufig, daß er sich durchaus noch nicht mit der neuen Landeshoheit befreunden kann. Die Stimmung der Bauern in Rheinpreußen und Münsterland wird noch auf lange Zeit hin den Beweis für diese Behauptung liefern.



Quelle: Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart: J.G. Cotta, 1851, S. 67-68.

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