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David Friedrich Strauss: Schlußbetrachtung, Das Leben Jesu (um 1835)

Mit der konsequenten Bibelkritik in Das Leben Jesu (1835), seinem ersten großen Werk, erregte der protestantische Theologe David Friedrich Strauss (1808-1874) Aufsehen, weil er behauptete, Christus sei ein sterblicher Mensch gewesen, dem die Evangelien göttlichen Rang verliehen hätten. Obwohl das Buch dem zunehmenden Säkularisierungstrend der Zeit entsprach, kostete es Strauss seine Professur in Tübingen und verhinderte 1839 seine Anstellung an der Züricher Universität.

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Schlußbetrachtung.

99.
Diese Einsicht kommt uns eben an dieser Stelle um so gelegener, je gründlicher sich uns am Schlusse unseres kritischen Geschäfts die Ueberzeugung aufdringt, wie mangelhaft und unsicher unsere historische Kunde von Jesus ist. Nachdem wir die Masse von mythischen Schlinggewächsen verschiedener Art, die sich an dem Baume hinaufgerankt, entfernt haben, sehen wir, daß, was wir bisher für Aeste, Belaubung, Farbe und Gestalt des Baumes selber hielten, großentheils vielmehr jenen Schlinggewächsen angehörte; und statt daß uns nun nach Wegräumung derselben der Baum in seinem wahren Bestand und Aussehen wiedergegeben wäre, finden wir vielmehr, wie die Schmarotzer ihm die eigenen Blätter abgetrieben, den Saft ausgesogen, Zweige und Aeste verkümmert haben, seine ursprüngliche Figur mithin gar nicht mehr vorhanden ist. Jeder mythische Zug, der zu dem Bilde Jesu hinzukam, hat nicht nur einen geschichtlichen verdeckt, so daß mit der Wegräumung des ersteren der letztere wieder zum Vorschein käme, sondern gar viele sind auch von den darüber gelagerten mythischen Gebilden gänzlich aufgezehrt worden und verloren gegangen.

Man hörte es nicht gern, und glaubt es darum auch nicht, wer sich aber einmal ernstlich mit dem Gegenstande beschäftigt hat und aufrichtig sein will, der weiß es so gut wie wir, daß wir über wenige große Männer der Geschichte so ungenügend wie über Jesus unterrichtet sind. Wie ohne alle Vergleichung deutlicher ist uns die um vierhundert Jahre ältere Gestalt des Sokrates. Zwar von seiner Jugend- und Bildungsgeschichte wissen wir gleichfalls wenig; was er aber in seinen reifen Jahren gewesen ist, was er gewollt und gewirkt hat, wissen wir genau, die Gestalten seiner Schüler und Freunde stehen mit geschichtlicher Deutlichkeit vor uns, über die Ursachen und den Verlauf seiner Verurtheilung und seines Todes sind wir vollständig unterrichtet. Hauptsächlich aber ist sein Leben, wenn auch einzelne anekdotenhafte Ansätze nicht fehlen, von dem mythischen Beiwerke verschont geblieben, in welchem die geschichtlichen Figuren mancher älteren griechischen Philosophen, z. B. des Pythagoras, in ähnlicher Art wie die Gestalt Jesu, nahezu untergegangen sind. Diese Erhaltung seines Bildes verdankt Sokrates dem Umstande, daß er in der gebildetsten Stadt Griechenlands in einer Zeit der hellsten Verstandesaufklärung und der höchsten Blüthe der Schriftstellerei lebte, wie denn mehrere seiner Schüler ausgezeichnete Schriftsteller waren und zum Theil gerade ihren Lehrer zum Gegenstand ihrer Darstellungen machte.

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