GHDI logo


Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen (19. Oktober 1945)

Innerhalb der evangelischen Kirche hatte im Dritten Reich die Gruppe der „Deutschen Christen“ den Nationalsozialismus aktiv unterstützt. Die Mitglieder der „Bekennenden Kirche“ standen ihnen kritisch gegenüber. Dem im August 1945 neu gebildeten Rat der evangelischen Kirche in Deutschland gehörten prominente Bischöfe und Pastoren aus der „Bekennenden Kirche“ an, darunter Theophil Wurm, Otto Dibelius und Martin Niemöller. Sie erkennen die Schuld an, die Deutschland durch die Verbrechen des Dritten Reichs auf sich geladen hatte, beklagen, sich dem Regime nicht energischer entgegengestellt zu haben und fordern eine grundlegende Erneuerung der Kirche.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Stuttgart, den 19. Oktober 1945

Der Rat der Evangelischen Kirche Deutschland begrüßt bei seiner Sitzung am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen. Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den Heiligen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, daß Er unsere Kirchen als Sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, Sein Wort zu verkündigen und Seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.

Daß wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.

Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.

So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus!

gez. Landesbischof D. Wurm
Landesbischof D. Meiser
Bischof D. Dr. Dibelius
Superintendent Hahn
Pastor Asmussen D. D.
Pastor Niemöller D. D.
Landesoberkirchenrat Dr. Lilje
Superintendent Held
Pastor Lic. Niesel
Dr. Dr. Heinemann




Quelle: Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen (19. Oktober 1945), Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, herausgegeben und bearbeitet von H. Michaelis und E. Schraepler, Bd. 17-26, Berlin o.J., Bd. 23, S. 307f; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung: Deutsche Geschichte 1945-1955. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986, S. 378.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite