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50 Jahre Grundgesetz (28. Mai 1999)

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes rekapituliert Bundespräsident Roman Herzog kurz dessen Erfolgsgeschichte und widmet sich anschließend den Herausforderungen, wobei er insbesondere das Prinzip der Freiheit und Eigenverantwortung betont.

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Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zum Staatsakt anläßlich des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland


Meine Damen und Herren,

um den 50. Geburtstag unseres Staates zu feiern, sind wir im neugestalteten Reichstagsgebäude versammelt, das wie kaum ein anderes Bauwerk die Geschichte der deutschen Demokratie verkörpert. Hier fielen die Entscheidungen über den Ersten Weltkrieg (soweit sie in Deutschland fielen). Hier wurde die erste Republik ausgerufen. Und als 1933 der Reichstag abgebrannt war, spürte jeder, daß damit auch die deutsche Demokratie zerstört war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Reichstag dann jahrzehntelang Platzhalter für das erhoffte gemeinsame Parlament. Jetzt, nach der Wiedervereinigung und dem Umzug des Bundestages, möge sich von hier aus fortsetzen, wofür dieser Ort steht: Freiheit, Demokratie und Wohlstand für alle. Und wenn wir das schaffen, wird niemand mehr von einer „Berliner Republik" sprechen, die grundlegend anders wäre als die der ersten 50 Jahre.

Deutschland ist in den letzten 50 Jahren einen langen Weg gegangen: Am Ende des Zweiten Weltkriegs lagen ja nicht nur die Städte in Ruinen. Unser Land war auch moralisch zerstört und von der Welt geächtet. Aber das deutsche Volk, dem dieses Haus gewidmet ist, hat aus der Erfahrung von Unfreiheit, Inhumanität und Diktatur gelernt. Unsere Väter wollten es anders und besser machen, und das ist ihnen gelungen: Heute ist Deutschland eine gefestigte freiheitliche Demokratie, ein wirtschaftlich starker Partner der Welt und ein Land mit großem Wohlstand. Und vor allem: Zum erstenmal in seiner Geschichte lebt es mit allen Nachbarländern in freundschaftlichen Beziehungen und fühlt sich als Triebfeder eines friedlich zusammenwachsenden Europas.

Ich habe nie versucht, vorhandene Defizite schön zu reden. Aber wir dürfen wirklich für uns in Anspruch nehmen, ein tolerantes, weltoffenes und erfolgreiches Land geworden zu sein. Das sieht man auch von außen so; ich habe es immer wieder selbst erfahren können. Auf vielen meiner Auslandsreisen wurde ich gefragt: Wie können wir an euren Erfahrungen teilnehmen? Wie ist euch der schnelle Wiederaufbau nach 1945 gelungen? Wie habt ihr so rasch ein stabiles und prosperierendes Land geschaffen? Wie habt ihr die Wiedervereinigung bewältigt? Man soll gewiß auch das nicht überschätzen. Aber manchmal relativieren sich die Probleme, die uns im Innern beschäftigen, eben doch, wenn man sie von außen betrachtet.

Niemand konnte von alldem vor fünfzig Jahren, als die Bundesrepublik als Weststaat gegründet wurde, auch nur träumen – und selbst vor zehn Jahren war es noch nicht selbstverständlich, als die Bürger in der DDR anfingen, sich der sie beherrschenden Diktatur entgegenzustellen. Aber wir haben die Wiedervereinigung dann nicht gegen die Staatengemeinschaft erreicht, sondern mit ihrer Zustimmung und in Freundschaft mit ihr.

Das Grundgesetz, das gestern vor 50 Jahren in Kraft trat, und seine Grundideen – Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Friedlichkeit – hatte am Beginn dieses Prozesses gestanden und war sein entscheidender Motor. Wir haben allen Grund, seinen Geburtstag festlich zu begehen.

Fünfzig Jahre Bundesrepublik Deutschland heißt aber auch: vierzig Jahre davon waren geteilte Vergangenheit. Gewiß: Wir haben in dieser Zeit nie aufgehört, eine Nation zu sein, und sind es selbstverständlich auch heute. Aber wir sind eine Nation mit verschiedenen Erfahrungen und infolgedessen auch mit verschiedenen Wahrnehmungen; denn wir haben uns in diesen vierzig Jahren, allen Sonntagsreden zum Trotz, weiter auseinandergelebt, als wir in der ersten Euphorie der wiedergewonnenen Einheit hofften. Das ist bitter, aber wir dürfen es nicht verdrängen und auch nicht überspielen. Wir müssen uns damit immer wieder aufs neue auseinandersetzen. Das gelingt aber nur, wenn die Bürger in Ost und West fair genug sind, die Erinnerungen und Biographien aus der geteilten Vergangenheit verstehen zu wollen und gegenseitig zu respektieren.

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