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Philipp Scheidemann gegen die Annahme des Versailler Vertrages (12. Mai 1919)


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Meine Damen und Herren! Die Deutsche Nationalversammlung ist heute zusammengetreten, um am Wendepunkte im Dasein unseres Volkes gemeinsam mit der Reichsregierung Stellung zu nehmen zu dem, was unsere Gegner Friedensbedingungen nennen.

In fremden Räumen, in einem Notquartier, in dem wir allerdings soeben herzlich willkommen geheißen wurden, hat sich die Vertretung der Nation zusammengefunden, wie eine letzte Schar Getreuer sich zusammenschließt, wenn das Vaterland in höchster Gefahr ist.

Alle sind erschienen bis auf die Elsaß-Lothringer, denen man das Recht, hier vertreten zu sein, jetzt schon ebenso genommen hat, wie ihnen das Recht genommen werden soll, in freier Abstimmung ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben.

Wenn ich in Ihren Reihen Kopf an Kopf die Vertreter aller deutschen Stämme und Länder sehe, die Erwählten vom Rheinland, vom Saargebiet, von Ost- und Westpreußen, Posen, Schlesien, von Danzig und Memel, neben den Abgeordneten der unbedrohten die Männer aus den bedrohten Ländern und Provinzen, die, wenn der Wille unserer Gegner zum Gesetz wird, zum letzten Male als Deutsche unter Deutschen tagen sollen, dann weiß ich mich von Herzen eins mit Ihnen in der Schwere und Weihe dieser Stunde, über der nur ein Gebot stehen darf: Wir gehören zusammen!

(Lebhaftes Bravo!)

Wir müssen beieinander bleiben.

(Erneuter lebhafter Beifall)

Wir sind ein Fleisch und ein Blut, und wer uns zu trennen versucht, der schneidet mit mörderischem Messer in den lebendigen Leib des deutschen Volkes.

(Wiederholter stürmischer Beifall)

Unser Volk am Leben zu erhalten, das ist unsere höchste Pflicht.

Wir jagen keinen nationalistischen Traumbildern nach; keine Prestigefrage und kein Machthunger haben Anteil an unseren Beratungen. Das Leben, das nackte, arme Leben müssen wir für Land und Volk retten, heute, wo jeder die erdrosselnde Hand an der Gurgel fühlt.

Lassen Sie mich ganz ohne taktisches Erwägen reden: was unseren Beratungen zugrunde liegt, dieses dicke Buch (auf die Friedensbedingungen weisend), in dem hundert Absätze beginnen: „Deutschland verzichtet – verzichtet – verzichtet“, dieser schauerliche und mörderische Hexenhammer, mit dem einem großen Volk das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, die Zustimmung zur erbarmungslosen Zerstückelung, das Einverständnis mit Versklavung und Helotentum abgepreßt und erpreßt werden soll –

(sehr wahr!)

dies Buch darf nicht zum Gesetzbuch der Zukunft werden!

(Stürmischer Beifall)

Ich habe die zuerst uns übermittelten Bedingungen unserer Gegner vor ein paar Tagen in Vergleich gesetzt mit den entsprechenden Programmpunkten des Präsidenten Wilson. Darauf will ich heute verzichten. Seit ich die Forderungen in ihrer Gesamtheit kenne, käme es mir wie Lästerung vor, das Wilson-Programm, diese Grundlage des ersten Waffenstillstands, mit ihnen auch nur vergleichen zu wollen!

(Lebhafte Zustimmung)

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