Die Neger erobern Europa
Die Neger erobern Paris. Sie erobern Berlin. Sie erfüllen bereits den ganzen Kontinent mit ihrem Geheul, mit ihrem Lachen. Und wir sind nicht erschrocken, wir sind nicht erstaunt: im Gegenteil, die Alte Welt bietet ihre letzten Kräfte auf, um ihnen zuzuklatschen. Gestern noch sagte manch einer unter uns: die Kunst ist tot! Furchtbare Beichte einer entseelten, entnervten und hoffnungslosen Zeit. Die Kunst tot? Aber dann lebe auch die neue Kunst, eine erste wieder! Die letzte war Zersetzung des Ich, Zersetzung der Welt, Verzweiflung an der Welt im Ich. das konstante, irrsinnige Drehen des Ich um sich selbst. Das erleben wir mit allen zwanzigjährigen Romanciers, die augenblicklich in Paris zu Ruhm gelangen, und es sind deren Dutzende. Benn quält sich ein einziges blutiges Buch im Leben ab, und nennt es, jung noch: Epilog. Das ist fast tragischer als der Selbstmord Kleists. Und was sonst nicht so tief erschmerzt ist, bleibt preziös und fin de siècle, dünn und frivol.
Und doch, wozu klagen? Die Neger sind da. Ganz Europa tanzt bereits nach ihrem Banjo. Es kann nicht anders. Manche sagen, das sind die Rhythmen aus Sodom und Gomorrha ... Warum sollten es nicht die aus dem Paradies sein? Hier sind ein Untergang und ein Anfang verquickt.
Die »Revue Nègre«, die im Théâtre des Champs-Elysées ein müdes Publikum zu Beben und Raserei aufpeitscht, wie es sonst nur noch ein Boxkampf vermag, ist symbolisch.
Die Neger tanzen mit ihren Sinnen. (Während die Europäer nur noch mit dem Intellekt tanzten.) Sie tanzen mit ihren Beinen, Brüsten und Bauch. So war der heilige Tanz der Ägypter, des ganzen Altertums, des Orients. So ist der Tanz der Neger. Man muß sie beneiden, denn das ist Leben, Sonne, Urwald, Vogelgesang, Leopardengebrüll, Erde. Sie tanzen nie nackt: und doch, wie nackt ist der Tanz! Sie haben Kleider angezogen, nur um zu zeigen, daß sie nicht für sie existieren.
Ihre Revue ist eine einzige Herausforderung an das moralische Europa. Acht wunderschöne Mädchen, deren Körperform die stilisierteste Reinheit vorzaubert, an Rehe und Griechenknaben gemahnt. Und ihnen voran, der Star: Josephine Baker. Sie haben alle ihr kreppiertes Wollhaar nach einer neuen in New York kürzlich gemachten Erfindung ölglatt gestrichen. Und auf diese runden Köpfe stülpen sie Hüte aus allen Moden, aus 1830, 1900 oder von Lewis. Diese Mischung ist von einer glühenden Ironie. In einem brokatenen Kleid von Poiret wird der Bauchtanz aufgeführt. Vor einer Kirche, die von Chagall gemalt sein könnte, tanzen sie in bürgerlichen Röcken, wie Weiber, die auf den Markt gehen, um einen weißbebrillten Pastor, der das Banjo bläst (die amerikanischen Neger sind fromme und gläubige Christen, man höre sich nur ihre modernen Lieder an!) einen Tanz, den man im Hof eines weiblichen Tollhauses erwarten könnte.
Das alles mutet an wie eine bleckende Parodie auf uns, auf alles. Und es ist Parodie. Und sie verulken sich selbst, wenn sie mit demselben Hohn, nur mit dem üblichen Lendenschurz und – einem seidenen Brusthalter angetan, den »Tanz der Wilden« vorführen.
Und hier sehen wir die Verquickung von »letzter« und »erster« Kunst. Diese Neger kommen aus dem dunkelsten New York. Sie waren da verachtet, geächtet, aus einem miserablen Ghetto mögen diese schönen Frauen gerettet worden sein. Diese prachtvollen Glieder badeten in Abspülwasser. Sie kommen gar nicht aus dem Urwald. Wir wollen uns nichts vormachen. Aber sie sind doch ein neues, unverbrauchtes Geschlecht. Sie tanzen mit ihrem Blut, mit ihrem Leben, mit allen Erinnerungen ihrer kurzen Geschichte: Erinnerungen an die Auswanderung auf stinkenden Schiffen, an die erste Proletenarbeit in Amerika, an viel Unglück. Da bricht die Sentimentalität durch. Wenn sie singen, werden sie sentimental. »Swanee River« und »Give me just a little bit«, diese Schlager aller Provinz-Jazz, sind die Schminke der Zivilisation. Wehe, diese Urmenschen werden schnell verbraucht! Werden sie die Zeit haben, das, was in ihnen ist, mit ihren eigenen Mitteln zu neuer Kunst auszudrücken? Es ist fraglich.
Der Führer, Regisseur und Haupttänzer der Truppe ist Louis Douglas, ebenbürtig der vollendeten Baker. Er ist der einzige, der eine ganz schwarze Maske trägt, während alle anderen fast hellbraun sind. Er hat einen riesenhaften weißen Mund. Aber seine Füße! Sie sind es, die die Musik inspirieren. Das Orchester richtet sich nach ihnen, nicht umgekehrt. Er geht, er schleppt, er rutscht, und der Takt steigt aus dem Boden, nicht aus den Flöten, die nur heimlich begleiten. Eine Nummer heißt: »Meine Füße reden«. Und mit den Füßen erzählt er uns seine Überfahrt von New York nach Europa: den ersten Tag auf dem Schiff, den dritten bei Sturm, dann die Fahrt in der Eisenbahn und ein Rennen in Longchamp.
Die Musikanten spielen mit, sie spielen nicht nur auf! Sie befinden sich links von der Bühne, laufen bald hinter einer Tänzerin her, oder werfen ihre Bemerkungen in ein Lied. Sie sind echte Schauspieler. Sie helfen noch mit, das Parodistische zu unterstreichen. Sie lachen immerfort. Über wen machen sie sich lustig? Nein: sie machen sich über niemand lustig, sie freuen sich nur, am Spiel, am Tanz, am Takt. Sie freuen sich mit ihren Gesichtern, mit ihren Beinen, mit ihren Schultern, alles wackelt und agiert mit. Und oft meint man, sie hätten die Hauptrolle.
Aber die Hauptrolle hat das Negerblut inne. Langsam fallen seine Tropfen über Europa. Ein längst vertrocknetes Land atmete kaum mehr. Ist das vielleicht die Wolke, die so schwarz am Horizont aussieht, deren befruchtende Güsse aber so weiß schimmern könnten? Der Neger Jupiter raubt Europa heißt ein moderner deutscher Roman, der in diesen Tagen herauskommt. Das Negerproblem wird akut für unsere ganze Zivilisation. Und es lautet so: Brauchen die Neger uns? Oder brauchen nicht eher wir sie?
Quelle: Yvan Goll, „Die Neger erobern Europa“, Die literarische Welt 2 (15. Januar 1926) Nr. 3, S. 3-4; abgedruckt in Weimarer Republik: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933, herausgegeben von Anton Kaes. Stuttgart: Metzler, 1983, S. 256-59.