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George Grosz, „Unter anderem ein Wort für deutsche Tradition” (1931)


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Unter anderem ein Wort für deutsche Tradition


... sicher leben wir in einer Übergangszeit. Alle Begriffe sind allmählich zweifelhaft geworden und ins Wanken geraten, und Abendröte fällt auf einen überalterten Liberalismus. Man weiß mit der seit 1793 datierten „Freiheit“ zur Zeit nichts mehr anzufangen. Überall Umorientierung und entschiedene Reaktion auf das, was vorgestern noch allgemein gültig.

Rechts und links scheiden sich immer klarer zum Endkampf um die Macht. Beiden gemeinsam der Wille, in Massen Befehle von oben zu empfangen, und „Hände an die Hosennaht“ zu gehorchen.

Wie schnell das geht! Nach dem Kriege — glaubte ich — kein Mensch würde mehr an Uniform, Strammstehen und so denken.

Wie dem auch sei, ich halte Deutschland jetzt für das interessanteste und auch rätselhafteste Land in Europa. Ich habe die Empfindung, als sei unser Land vom Schicksal zu einer großen Rolle berufen. Mir ist oft, als lebten wir in einer Epoche ähnlich jener des zu Ende gehenden Mittelalters. Da lag auch ein starker Druck auf allen, und trotzdem befruchtete diese schreckensvolle Zeit ihre Künstler, und Bosch und Breughel malten ihre einzig in der Geschichte der Malerei dastehenden Kosmogonien.

Vielleicht haben wir ein solches neues Mittelalter vor uns. Wer weiß? Jedenfalls scheinen mir die humanistischen Ideen im Absterben, ebenso legt man auf die vor einem Jahrhundert so ekstatisch verkündeten Menschenrechte keinen allzu großen Wert mehr. Eher geht mit der fortschreitenden Zivilisation an allen Fronten eine gesunde Verachtung des Menschenlebens vor sich. Scheinbar reimt sich das mit dem bei uns im weitesten Maße angewandten und auch praktisch ausgeübten Sozialismus kaum zusammen. Und doch ist es so.

Die Masse und der kleine Mann ist Trumpf. Oben sitzen ja sehr häufig seinesgleichen, ehemalige Arbeiter; dem Mann unten das Wunder des Aufstiegs bezeugend. Reinster Materialismus herrscht. Arbeit, Arbeit, Arbeit .. das A und O des Betriebes. Traum, romantisch dargereicht und tausendmal propagiert: Leben mit Komfort, Badewanne, Sport, ein Serienwagen, wenn’s hoch kommt Weekend mit Cocktail und Schönheitskönigin.

Amerika hat’s vorgemacht, wir kommen — durch Krieg etwas zurück — bei natürlicher Anlage langsam, aber sicher nach. Auch im marxistischen Rußland ist Amerika Vorbild und heißersehntes Ziel. Ziel heißt: Rationalistische Ausnützung aller Rohstoffquellen, um damit Komfort für den kleinen Mann zu schaffen auf Basis der maschinellen Massenproduktion.

Vorbedingung der Kultur, Hebung des Standards, Essen, Sport, Kleidung, kein Unbeschäftigter mehr ... die Kultur kommt dann von alleine ... aus der arbeitenden Klasse heraus. So sagen die offiziellen Theoretiker. Amerika zeigt zwar ein anderes Bild, aber immerhin.

Ich glaube nicht so recht an die offiziellen Gelehrten, die mit Wirtschaftsstatistiken und Tabellen ja alles be- und gegenbeweisen können. Eins ist richtig, heute mangelt es an Ordnung und Plan.

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