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George L. Mosse über das sexuelle Erwachen und die sexuelle Verdrängung in der Weimarer Republik (Rückblick 2000)

In diesem Auszug aus seinen im Jahr 2000 erschienenen Erinnerungen beschreibt der deutsch-amerikanische Historiker George Lachmann Mosse (1918-1999), der aus einer jüdischen Verlegerfamilie stammte und in der Weimarer Republik aufwuchs, die gängige bürgerliche Einstellung zu sexueller Aufklärung. Obwohl die Weimarer Republik allgemein als sexuell freizügig galt, scheint sich zumindest in bildungsbürgerlichen Kreisen gegenüber dem Kaiserreich wenig an der Erziehung und Aufklärung der Kinder und Jugendlichen verändert zu haben. Mosse emigrierte kurz nach der NS-Machtübernahme 1933 und studierte zunächst in Großbritannien und später in den USA, deren Staatsbürgerschaft er 1941 erhielt.

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Ein bezeichnendes Beispiel dafür, welch wichtige Rolle Joseph Lehmann in unserer Familie – und insbesondere im Leben von uns Kindern – spielte, war seine Mitwirkung an unserer sexuellen Aufklärung. Weder mein Vater noch meine Mutter brachten es je über sich, dieses Thema anzusprechen. Der Gerechtigkeit halber möchte ich erwähnen, dass mein Vater 1930 einen einschlägigen Versuch unternahm, nachdem Hilde sich einer Bewegung angeschlossen hatte, die sich der erzieherischen Sozialarbeit widmete und in einem Berliner Arbeiterviertel Kindertagesstätten unterhielt. Vater begann die Lektion, indem er durch indirekte Fragen herauszufinden versuchte, ob Hilde schon einen Freund hatte, was sie zu seiner großen Erleichterung verneinte, und beendete sie mit der Warnung, alle jungen Männer seien nur hinter ihrem Geld her.

Was mich betraf, so warteten meine Eltern zu lange, ehe sie sich an die unappetitliche Aufgabe wagten, mir die Sexualität zu erklären. Ich besuchte schon seit mehreren Jahren ein gemischtes Internat, als sie mich endlich, anstatt das direkte Gespräch mit mir zu suchen, zu Lehmann schickten. Das ging nicht zu meinem Vorteil aus: Als der sehr impulsive Jüngling, der ich war, ergriff ich das Wort, bevor der Rabbi es tun konnte, und schilderte ihm, der hinter seinem Schreibtisch saß und seinen langen Bart streichelte, alles, was ich in den Schlafsälen und Badezimmern der Schule erlebt hatte, wobei ich noch eigene Ausschmückungen hinzufügte und nicht zu berichten vergaß, an welchen sexuellen Praktiken ich mich selbst beteiligt hatte. Sehr schockierend kann es für ihn wohl kaum gewesen sein, handelte meine Beichte doch hauptsächlich vom Masturbieren, das zu der Zeit allerdings als sündhaft genug galt. Ich erinnere mich nicht im Detail an das, was der Rabbi mir entgegnete; seine ernsten Abmahnungen machten mir aber wohl einen eher geringen Eindruck. Er war von diesem Tag an überzeugt, dass ich das schwarze Schaf der Familie sei, ein schamloser Bursche, wenn nicht Schlimmeres – es kam zu keinem weiteren Gespräch mit ihm. Ich wurde wegen meines anrüchigen Benehmens sogar aus dem Religionsunterricht der Reformgemeinde ausgeschlossen. Bei welcher Gelegenheit dies geschah, weiß ich nicht mehr mit Bestimmtheit; der Anlass könnte aber einer der sogenannten Mäusealarme gewesen sein, mit denen ich mir in der Schule einen Namen machte. Sie liefen so ab, dass ich mitten in der Unterrichtsstunde mit dem lauten Ausruf »Maus!« mein Heft an die Wand warf, woraufhin alle meine Klassenkameraden dasselbe taten. So erzeugten wir ein Tohuwabohu. Nach meinem Ausschluss aus dem Religionsunterricht beschränkten sich meine Kontakte zur Reformgemeinde auf den einmal jährlich fälligen Synagogenbesuch.

Ich bin sicher, dass das, was meine Schwester und ich in Sachen »sexueller Aufklärung« erlebten, ganz und gar kein Einzelfall war. In unseren Kreisen wurde über solche Dinge am liebsten nicht gesprochen. Das Gebot der Wohlanständigkeit hatte in der bürgerlichen Welt selbst noch in der Weimarer Zeit einen hohen Stellenwert. Die sogenannte Sittenlosigkeit, die anständige Männer und Frauen, wenn sie wollten, jeden Abend auf den Bühnen Berlins bestaunen konnten und die in der Bildenden Kunst die Szene beherrschte, wurde völlig aus der eigenen Privatsphäre herausgehalten. Hier wurde eine strikte Trennung zwischen dem Leben und der Kunst gewahrt. Die jungen Leute wurden behütet und von jeder Versuchung ferngehalten, um zu verhindern, dass sie später im Leben auf Abwege gerieten. Solche Vorsorge wurde nur jenen nicht zuteil, von denen man meinte, sie seien altersmäßig und geistig so gereift, dass sie nicht Gefahr liefen, aus den Dingen, die sie im Theater sahen, falsche Schlüsse zu ziehen und etwa im Leben die Kunst zu imitieren.



Quelle der deutschen Übersetzung: George L. Mosse, Aus Grossem Hause: Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers. München: Ullstein Verlag, 2003, S. 58-61.

Quelle des englischen Originals: George L. Mosse, Confronting History: A Memoir. With a Foreword by Walter Laqueur. Madison: University of Wisconsin Press, 2000, S. 37-38.

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