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Betty Scholem zur Inflation (Oktober 1923)


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Berlin, 15. Oktober 1923

Mein liebes Kind!

Einen zweiten Brief erhielten wir noch nicht, hoffentlich in dieser Woche.

Inzwischen haben sich hier die Zustände katastrophal verschlimmert. Du siehst dieser Brief kostet 15 Millionen Porto u. von übermorgen an 30, aber höchstens gelten die Erhöhungen 2 Tage. Es geht nur noch nach Milliarden. Um für den nächsten Freitag die Löhne wertbeständig aufzubewahren, haben die Jungen am Sonnabend für 1½ Billionen (!!lächerlich!!) Dollarschätze gekauft, die dann am Donnerstag wieder verkauft werden, um die Leute zu bezahlen. Der Lohn dieser Woche beträgt vorläufig 8 Milliarden, es sind aber heute schon Verhandlungsschmuse, weil die Arbeiter das Doppelte verlangen. Die Brotkarte ist aufgehoben, ein Einheitsbrot heute 540 Millionen, morgen gewiß wieder das doppelte. Die Lektrische 20 Mill (morgen 50 Millionen!) Ach Gott, Du hast wahrscheinlich keinen Schimmer mehr von diesem Millionen-Hexensabbath u. kannst Dir garnichts dabei denken. – Du weißt doch, daß wir für Frau Jacques Meyer die dämlichen Zeitschriften hinschicken. Da sendet uns ihr Mann vor einigen Tagen als à Conto-Zahlung einen Check auf Berlin über 5 Millionen!! Wenn wir ihn bei der betreffenden Kasse einziehen wollten, kostet er 40 Millionen Fahrgeld! Nun frage ich mich, ob die nachbarlich angrenzenden Schweizer wirklich so ahnungslos in Bezug auf unsere Verhältnisse sind oder ob sie nur so tun! (Die 16,50 nach Lemberg hat er abgeschickt u. das ist erledigt.) Diese kleine Episode beleuchtet aber die ganze Lage. Wenn in aller Welt eine solche Verständnislosigkeit uns gegenüber herrscht, wie können wir dann erwarten, daß irgend Jemand uns hilft! Es scheint unabwendbar, daß wir Rhein und Ruhr verlieren, daß Bayern sich abzweigt u. Deutschland wieder auseinanderfällt, in kleine Murksstaaten. [ . . . ]

Kommunistens machten am Sonntag den Wochenbesuch bei Erichs. Die kleine Edith ist reizend u. voller Grazie, sie erzählte, sie sei am Morgen beim Coiffeur gewesen, zum Haare waschen u. damit er ihr den Pagenkopf stutzt, u. Werner sagte, sie bekäme jetzt Tanzunterricht u. Grazienstunde, u. er suche eine bessere Wohnung, wolle aber die Revolution abwarten, (angesagt für den 10. November!) u. dann mußten sie gehen, denn sie hatten einen Hasen zu Mittag, für 1 ¾ Milliarden. Erich sagte mir es sei zwar äußerst amüsant, aber doch sehr traurig gewesen, diesen Politiker reden zu hören.

Nun adjö für heute!

Kuß Mutt

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