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Die Geburtenrate sinkt weiter (1. Februar 2010)

Die Berliner Schriftstellerin und Journalistin Tanja Dückers verwirft vehement jegliche Versuche, die niedrige Geburtenrate in Deutschland auf die mangelnde Religiosität zurückzuführen, sondern macht dafür die Familienpolitik der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich. Sie sieht die Hauptursache für den Geburtenrückgang vor allem in dem Mangel an Kinderbetreuungsstätten und vergleicht die Situation in Deutschland mit der in Frankreich, dem „Fruchtbarkeits-Europameister“.

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Religiosität hilft nicht

Im Jahr 2009 ist die Geburtenrate in Deutschland weiter gesunken. Auf der Suche nach Gründen werden nahe liegende Ursachen übersehen. Tanja Dückers kommentiert.



Plötzlich wird die Frage aufgeworfen, ob die Deutschen nicht religiös genug seien, weil sie so wenige Kinder bekommen. Malte Lehming hat dieses Thema unter dem Titel „Religiöser werden für mehr Kinder“ aufgegriffen.

Doch die vermutete Korrelation zwischen Religiosität und Geburtenrate ist – auf Europa bezogen – schlicht Unfug: Europas Katholikennation Nummer Eins, Polen, hat, wie auch einige andere postkommunistische Länder, eine niedrige Geburtenrate, ebenso die katholisch geprägten Länder Portugal, Spanien und Italien.

„Fruchtbarkeits-Europameister“ (so französische Medien) ist hingegen zum dritten Mal infolge Frankreich (pro Frau werden dort 2,02 Kinder geboren, in Deutschland 1,35 Kinder) – ein Land mit vergleichsweise wenig konfessionell gebundenen Bürgern. Gleiches gilt für die skandinavischen Länder, deren Geburtenzahlen ebenfalls zu den höchsten in Europa zählen.

Auch die Differenzierung zwischen „tradierten“ und „vitalen“ religiösen Gesellschaften verwirrt eher, als dass sie einen Sinnzusammenhang zur Geburtenrate erhellen würde – eine „vital“ gelebte und eine „tradierte“ Religiosität schließen sich oft nicht aus, sondern existieren parallel zueinander in unterschiedlichen Alterskohorten oder sozialen Milieus. Und viele Menschen, auch in Deutschland, leben ihre Religiosität in verschiedenen Lebensabschnitten oder -phasen mit unterschiedlicher Intensität. Die Begriffe suggerieren eine Statik im Denken und Fühlen, die nicht der Wirklichkeit entspricht.

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Offenbar fehlt im Moment jeder Gradmesser für die Gründe des Geburtenrückgangs in Deutschland. Und es wird wieder einmal die Schuld beim Einzelnen gesucht, ihm, vor allem jedoch: ihr, der Frau, ins Gewissen geredet und in ihr ein moralisches Defizit vermutet, anstatt – ganz profan – den Blick auf die familienpolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte zu richten: Denn die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder sind hierzulande nach wie vor absolut unzureichend.

In den alten Bundesländern gibt es in vielen Regionen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für nur fünf Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte (Frankreich: fast 50 Prozent). Während es in Deutschland auch noch für ein Drittel der Kinder im Alter von über drei Jahren keinen Platz gibt, gehen in Frankreich fast 100 Prozent der über Dreijährigen in eine Kindertagesstätte.

Es ist nicht nachvollziehbar, warum bei dem nunmehr jahrzehntelangen Gejammer über das drohende Aussterben der Deutschen nicht früher etwas an diesem Missstand geändert wurde. Dass erst ab 2013 ein Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren garantiert werden kann, ist ein Skandal. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten Familien heute auf zwei Einkommen und damit auf einen Betreuungsplatz für ihre Kinder angewiesen sind.

Die arbeitsmarktstrukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben entscheidend dazu beigetragen: Wie in kaum einem anderen Land in Westeuropa hat sich in Deutschland ein gigantischer Niedriglohnsektor etablieren können, die Realeinkommen sind weit stärker als im EU-Durchschnitt gesunken.

Ferner hat sich die Zahl der Selbstständigen in den letzten 20 Jahren rasant erhöht (nach Angaben des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn arbeitete im Jahr 2008 jede dritte Frau in Deutschland auf selbstständiger Basis). Da für Selbstständige die Arbeit nicht einfach mit der Geburt eines Kindes aufhört, sind sie besonders auf ein gut ausgebautes Betreuungssystem angewiesen.

In jedem Fall kann es sich die Mehrzahl der Berufstätigen hierzulande nicht (mehr) leisten, weniger zu verdienen oder auf ein Gehalt zu verzichten. In „postfeministischen“ Zeiten gehen Frauen schon lange nicht mehr ausschließlich aus Gründen der „Selbstverwirklichung“ arbeiten (dieser Aspekt dürfte für die Kassiererin bei Lidl oder die freundliche Dame am anderen Ende der Hotline auch wenig ausschlaggebend sein), sondern, weil das Einkommen des Mannes nicht ausreicht.

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