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Problematische Gedanken über Parteien: Auszüge aus dem Staats-Lexikon: „Parteien” (1845-1848)

Der Verfasser des vorliegenden Artikels zu „Parteien“ im Staats-Lexikon (1845-1848), einer zwölfbändigen Enzyklopädie politischer Begriffe und Konzepte, sprach sich für eine an den konkreten Interessenlagen auszurichtende Differenzierung der Parteien aus, anstatt auf einem starren Links-Rechts Schema zu beharren.

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Ich werde deshalb, ehe ich zu meiner Darstellung übergehe, die Rohmer'sche Theorie einige Augenblicke näher beleuchten. Rohmer deducirt folgendermaßen:

Zuerst wendet er sich gegen die herrschenden Begriffe über Parteien, welche, in den bekannten Stichwörtern „radical", „liberal", „conservativ" (auch „aristokratisch"), „absolutistisch" (oder „reactionär") und „Justemilieu" sich bewegend, von der Ansicht ausgehen, daß wir „in einer Periode des Uebergangs von der alten zur neuen Zeit leben"; die eine Partei will die neue Zeit — Partei des „Fortschritts" (liberale), die andere hängt an der alten, Partei des „Rückschritts" (conservative). Dazwischen stehen Die, welche Vermittlung wollen — das Justemilieu, von den Einen als Tendenz der Versöhnung geliebt, von den Andern als Tendenz der Schwäche gehaßt oder verachtet. Jene beiden Hauptparteien tragen nun allerdings ihre Abstufungen in sich und ihre Abarten. Was am Alten hängt, kann entweder still stehen (conservativ im engeren Sinn), oder geradezu rückwärts gehen (reactionär oder absolutistisch). Die Freunde des Neuen wollen den Fortschritt entweder mit Schonung der bestehenden Verhältnisse (Liberale im engeren Sinn), oder ohne Rücksicht auf die letztern, schonungslos und von Grund aus (Radicale). In den Grundsätzen sind Liberale und Radicale gleich, in der Ausführung verschieden. Radicalismus ist den Einen das irrige Extrem, den Andern die höchste Consequenz des liberalen Princips. Nach Jenen ist man radical, wenn man die Grundsätze des „Fortschritts" unbesonnen und ohne Kenntniß der Zustände anwendet, nach Diesen, wenn man sie schroff und energisch durchzuführen weiß. Dies sind die herrschenden Begriffe, sagt Rohmer, [ . . . ]

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Diesen Maßstab für die richtige Beurtheilung der Parteien gewinnen wir durch die Antwort auf die Frage: was ist unmittelbar der Zweck der Parteikämpfe, was will zunächst jede Partei sich erringen? Gewiß nichts Anderes als die Möglichkeit, den Staat ihren Begriffen und Wünschen gemäß zu organisiren. Und wenn diese Möglichkeit erkämpft ist, welcher Grundsatz, welches Princip, welcher leitende Gedanke bedingt diese Organisation? Einfach nichts Anderes als das Interesse. Jede Partei will den Staat in ihrem Interesse organisiren, jede Partei, zur Herrschaft gelangt, giebt der Gesellschaft eine Form, die ihren Interessen am entsprechendsten ist. — Die Interessen sind es, die verschiedenen Interessen, um welche sich alle Parteikämpfe drehen, welche den Mittelpunkt für alle Regungen und Bewegungen auf dem Gebiete des Staats bilden. Die Natur dieser Interessen bedingt auch die Natur der Parteien, giebt ihnen ihren Inhalt, ihr Princip, stempelt sie zu Dem, was sie sind, bedingt ihre charakteristischen Merkmale, unterscheidet sie von einander.

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