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Rückblick und Vorschau: Deutschland, Europa und die transatlantischen Beziehungen (3. November 2009)

Kurz vor den Feiern zum 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer erinnert Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Rolle der USA im Nachkriegsdeutschland und bei der Vereinigung Deutschlands. Sie betont die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, um die weitreichenden globalen Probleme gemeinsam zu lösen.

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Rede Bundeskanzlerin Merkel vor dem Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika


Madam Speaker,
Mr. Vice President,
Distinguished Members of Congress,

ich danke Ihnen allen für die große Ehre, heute, kurz vor dem 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Ich bin der zweite deutsche Kanzler, dem diese Ehre zuteil wird. Konrad Adenauer war der erste, als er im Jahre 1957 nacheinander vor beiden Häusern des Kongresses gesprochen hat.

Unterschiedlicher könnten unsere beiden Lebenswege gar nicht sein. 1957 war ich gerade einmal ein Kleinkind von drei Jahren. Ich lebte mit meinen Eltern in Brandenburg, einer Region, die zur DDR, dem unfreien Teil Deutschlands, gehörte. Mein Vater arbeitete als evangelischer Pfarrer. Meine Mutter, die Englisch und Latein studiert hatte, um Lehrerin zu werden, durfte ihren Beruf in der ehemaligen DDR nicht ausüben.

Konrad Adenauer war 1957 bereits 81 Jahre alt. Er hatte das Kaiserreich in Deutschland erlebt, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg. Von den Nationalsozialisten wurde er seines Amtes als Oberbürgermeister der Stadt Köln enthoben. Nach dem Krieg gehörte er zu den Männern und Frauen, die die freiheitliche, demokratische Bundesrepublik Deutschland mit aufgebaut haben.

Nichts steht mehr für diese Bundesrepublik Deutschland als ihre Verfassung, ihr Grundgesetz. Es wurde vor genau 60 Jahren verabschiedet. In Artikel 1 dieses Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser kurze, einfache Satz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – war die Antwort auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, auf den Mord an sechs Millionen Juden im Holocaust, auf Hass, Verwüstung und Vernichtung, die Deutschland über Europa und die Welt gebracht hat.

In wenigen Tagen schreiben wir den 9. November. Es war der 9. November 1989, an dem die Berliner Mauer fiel, aber es war auch der 9. November 1938, der sich ebenso in das Gedächtnis der deutschen und europäischen Geschichte eingebrannt hat. An diesem Tag verwüsteten die Nationalsozialisten Synagogen, setzten sie in Brand, ermordeten Unzählige. Es war der Beginn dessen, was später in den Zivilisationsbruch der Shoah mündete. Ich kann heute hier nicht vor Ihnen stehen, ohne der Opfer dieses Tages und der Shoah zu gedenken.

Unter uns ist ein Gast, der am eigenen Leib die Schrecken dieses Deutschlands im Nationalsozialismus erlebt hat und den ich vor einiger Zeit kennen lernen durfte: Professor Fritz Stern. Er wurde 1926 im damals deutschen, heute polnischen Breslau geboren und schaffte es mit seiner Familie, 1938 noch rechtzeitig vor den Nazis in die USA zu fliehen. In seiner 2006 veröffentlichten Autobiographie unter dem Titel „Five Germanies I Have Known“ beschreibt Fritz Stern den Moment seiner Ankunft 1938 im Hafen von New York und damit im Hafen der Freiheit und Sicherheit.

Meine Damen und Herren, es ist wunderbar, dass die Geschichte es wollte, dass wir – der aus Deutschland verjagte, damals 12-jährige Junge und ich, die in der DDR aufgewachsene Bundeskanzlerin des heute wieder vereinten Deutschlands – heute gemeinsam in diesem Hohen Haus sein können. Das erfüllt mich mit großer Freude und großer Dankbarkeit.

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