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Die Bundesrepublik in Mittel- und Osteuropa (17. Februar 1995)

Der Präsident der Tschechischen Republik, Václav Havel, geht 1995 in einer Rede in Prag auf das schwierige Thema der deutsch-tschechischen Aussöhnung ein und spricht die bedeutsame Rolle Deutschlands in seinem Land an. Für seine Landsleute, so Havel, würde Deutschland sowohl Hoffnung als auch Gefahr symbolisieren. Er sei jedoch optimistisch. Er glaube an ein demokratisches Deutschland und an dessen konstruktive Rolle bei der Integration Mitteleuropas in die westlichen Bündnissysteme.

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„Tschechen und Deutsche auf dem Weg zu einer guten Nachbarschaft“, gehalten am 17. Februar 1995 im Karolinum zu Prag


Magnifizenz,
meine Damen und Herren,

unsere Generationen leben in einer Zeit, die man möglicherweise einmal als Zeit einer großen geschichtlichen Wende, eines Umbruchs ansehen wird. Es ist eine Zeit, in der eine neue internationale Ordnung mühsam zur Welt kommt, in der viele Staaten aufs neue ihren Charakter, ihre Identität und ihren Platz im internationalen Geschehen suchen, in der auf unserer Erde sogar eine Suche nach einem neuen Geist im Zusammenleben von Menschen, Völkern, Kulturen und ganzen Zivilisationskreisen vonstatten geht. Man kann sagen, daß wir an einem Scheideweg angelangt sind und uns einer großen Herausforderung gegenübersehen. Unvermeidlich wird die Gegenwart auch zur Zeit erneuter Reflexion – einschließlich des Zurückdenkens an die Geschichte – und neuen Bilanzziehens.

Es ist nicht nur der kommende 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, der uns dazu auffordert, darüber nachzudenken, welche Schlußfolgerungen wir jetzt – mit zeitlichem Abstand – aus jenem Krieg, dem furchtbarsten in der Geschichte der Menschheit, ziehen können. Es geht auch nicht lediglich darum, daß der fünfte Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und des Endes des Kalten Krieges und der bipolaren Teilung der Welt uns zu der Überlegung veranlaßt, was die jüngsten Ereignisse gebracht haben, was sie bedeuten und vor welche Aufgaben sie uns stellen. Es geht um mehr: Wir müssen alle diese Geschehnisses in ihren breiteren und tieferen geschichtlichen Kontext stellen und die Herausforderung unserer Zeit vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden Reflexion zu formulieren suchen.

Hierzu möchte ich mit einigen Bemerkungen zu den tschechisch-deutschen Beziehungen beitragen. Es ist mir eine Freude, dies an einem Ort tun zu können, der die jahrhundertealte intellektuelle Koexistenz von Tschechen und Deutschen so deutlich in Erinnerung ruft, wie dies anderswo kaum möglich wäre: auf dem akademischen Boden der Karls-Universität.

Für uns bedeutet das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen mehr als bloß eines von vielen Themen unserer Diplomatie. Es ist Teil unseres Schicksals, sogar Teil unserer Identität. Deutschland ist unsere Inspiration wie unser Schmerz, eine Quelle von verständlichen Traumata, von mancherlei Vorurteilen und Irrglauben sowie von Maßstäben, auf die wir uns beziehen; einige sehen Deutschland als unsere größte Hoffnung, andere als unsere größte Gefahr. Man kann sagen, daß sich die Tschechen durch ihre Einstellung Deutschland und den Deutschen gegenüber sowohl politisch als auch philosophisch definieren, und daß sie durch die Art dieser Einstellung nicht nur ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte, sondern auch den eigentlichen Typ ihres nationalen und staatlichen Selbstverständnisses bestimmen. Für die Deutschen ist das Verhältnis zu den Tschechen verständlicherweise nicht von einer derart fundamentalen Bedeutung, jedoch ist es für sie wichtiger, als mancher von ihnen vermutlich zugeben würde: traditionell ist es einer der Tests, der auch den Deutschen ihr Selbstverständnis enthüllt. Mehrere Male ist ja Deutschlands Beziehung zu uns ein wahres Spiegelbild seiner Beziehung zu Europa gewesen! Gerade in jener Zeit, in der auch das neu vereinte Deutschland seine neue Identität und seine neue Stellung in Europa und in der Welt sucht, ist dieses Verhältnis um so bedeutsamer.

Was bedeutet das nun für uns? Nicht mehr und nicht weniger als eine Aufforderung, über das tschechisch-deutsche Thema öffentlich, offen und sachlich zu sprechen, wohl wissend, daß wir, indem wir dies tun, über uns selber sprechen.

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