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Die Attraktivität der Metropole Berlin (6. Juli 2006)

Ein Kulturjournalist evoziert die mannigfaltigen Stimmen des neuen Berlin und beschreibt die Attraktivität der neuen/alten deutschen Hauptstadt, deren Stärke in ihren Mängeln zu liegen scheint und die eine Spannung erzeugt, von der sich besonders junge kreative Leute mit einer Portion Wagemut angesprochen fühlen.

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Stadt der Spieler

Berlin hat alles verloren: Seine Industrie, seine Subventionen und die Illusionen der neunziger Jahre. Und jetzt? Wovon sollen 3,4 Millionen Berliner leben? »Berlin muss Las Vegas werden«, sagt der Architekt Hans Kollhoff. Begegnungen und Beobachtungen in einer ernüchterten Stadt.



Wir fahren nach Berlin!« – der Schlachtruf von Fußballfans im ganzen Land gibt Antwort auf eine praktische Frage: Wohin, wenn etwas so Großes bevorsteht wie das WM-Finale? Jede große Freude will ihren Ort. Jede Sehnsucht. »Nach Berlin«, das ist der Mythos, der Hype, der Sog einer jeden Großstadt, die diesen Namen verdient: Kommt alle her, die ihr mühselig und beladen seid! Hier ist alles größer, schöner, höher.

Sicher, im Fall von Berlin ist dieser Sog paradox. Mühselig und beladen ist die Stadt ja selbst. Heillos verschuldet. Und nichts in Sicht, was 3,4 Millionen Berliner ernähren könnte. Kein big daddy wird kommen und, sagen wir, 20.000 neue Arbeitsplätze spendieren. Als Berlin über Nacht die Mauer verlor und gleich darauf seine Subventionen, da gab es ein böses Erwachen. Erst 1989 endete hier die Nachkriegszeit. Erst da begriff Berlin in schmerzhaften Erkenntnisschleifen, dass es Berlin nicht mehr gab – das dramatische, tolle Berlin, auf das einst die Völker der Welt geschaut hatten.

In den ersten, wilden Jahren nach 1989 wurde es zu New Berlin hochgeschrieben. Man zog hin. Bezog Posten. Projektierte. Baute. Bis man merkte, es reicht nicht. Man wässert den märkischen Sand mit Millionen, und er schluckt sie einfach weg. Kaum dreht man sich um, ist der Sand wieder trocken. So ausgedörrt ist diese Stadt, so durstig nach Sinn und Geld, sie schluckt und schluckt, aber das große Berlin-Ding kommt nicht ins Fliegen.

Da kippte die Stimmung. Nun wurde Berlin runtergeschrieben. Seine Taxifahrer. Seine Faulenzerjugend mit Latte Macchiato. Sein Partybürgermeister mit den übernächtigt wirkenden Augen. Es war die Saison der Berlin-Hasstraktate. Bleibt nur die Frage: Warum sind trotzdem (fast) alle da?

Denn der Sog hält an. Er nimmt sogar zu. 1,6 Millionen Berliner haben die Stadt seit 1991 verlassen, 1,66 Millionen sind nach Berlin gezogen – ein regelrechter Bevölkerungsaustausch! Mit jeder Milliarde, die Berlin sich mehr verschuldet, so scheint es, fliegen der Stadt weltweit mehr Herzen zu. Ist es die Lust am Ruinen-Chic einer ehemaligen Weltstadt? Ein Riecher für billige Mieten? Oder doch die Ahnung, am richtigen Ort zu sein? Sind die Berlin-Ritter der Neunziger zu ungeduldig gewesen – kommt Berlins Stunde erst noch?

Es gibt Leute, die das glauben. Sie ziehen sogar her, eine bunte Karawane aus Malern, Rentnern, Investoren. Londoner, New Yorker, Pariser Künstler, die es leid sind, dort allein für die exorbitanten Mieten zu arbeiten. Westdeutsche Pensionäre, die ihr kulturfernes Reihenhaus gegen eine Berliner Citywohnung tauschen, um wenigstens jetzt dort zu sein, wo die Opern wohnen, die Theater und großen Museen. Auch alte Gegner kaufen sich ein. Mancher Bonner aus der Initiative gegen den Regierungsumzug besitzt heute eine Wohnung im seinerzeit heftig bekämpften Berlin. Amerikanische Schauspieler, die hier gedreht haben, bleiben, weil sie die Stadt mögen – das Zart-Rohe ihrer alten Häuser und jungen Gesichter, den schrundigen Charme von Berlin.

Natürlich, die Preise. Nirgendwo in der westlichen Welt kann man so hip und so opulent in einer Großstadt leben und zugleich so billig. Nirgendwo ist Raum so preiswert. Wenn Berlin irgendetwas im Überfluss hat, dann sind es Zeit und Raum.

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