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Hermann von Helmholtz: Auszüge aus einer Rede aus Anlass seiner Berufung als Prorektor an der Universität Heidelberg (1862)

Entgegen dem Hegelschen Idealbild von der philosophischen Einheit des Wissens, postulierte der Physiker Hermann von Helmholtz (1821-1894) klare Trennlinien zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. Als einflussreicher Verfechter des naturwissenschaftlichen Fortschritts argumentierte Helmholtz, dass die Gelehrten, anstatt von einem einheitsstiftenden Weltgeist auszugehen, berufen seien, durch sorgfältige empirische Studien die Vielschichtigkeit der Welt zu erforschen.

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Hochgeehrte Versammlung!

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Wohl kann es in jetziger Zeit so scheinen, als ob die gemeinsamen Beziehungen aller Wissenschaften zu einander, um deren Willen wir sie unter dem Namen einer Universitas litterarum zu vereinigen pflegen, lockerer als je geworden seien. Wir sehen die Gelehrten unserer Zeit vertieft in ein Detailstudium von so unermesslicher Ausdehnung, dass auch der grösste Polyhistor nicht mehr daran denken kann, mehr als ein kleines Theilgebiet der heutigen Wissenschaft in seinem Kopfe zu beherbergen. Den Sprachforscher der drei letztvergangenen Jahrhunderte beschäftigte das Studium des Griechischen und Lateinischen schon genügend; nur für unmittelbar praktische Zwecke lernte man vielleicht noch einige europäische Sprachen. Jetzt hat sich die vergleichende Sprachforschung keine geringere Aufgabe gestellt, als die, alle Sprachen aller menschlichen Stämme kennen zu lernen, um an ihnen die Gesetze der Sprachbildung selbst zu ermitteln, und mit dem riesigsten Fleisse hat sie sich an ihre Arbeit gemacht. Selbst innerhalb der klassischen Philologie beschränkt man sich nicht mehr darauf, diejenigen Schriften zu studiren, welche durch ihre künstlerische Vollendung, durch die Schärfe ihrer Gedanken oder die Wichtigkeit ihres Inhaltes die Vorbilder der Poesie und Prosa für alle Zeit geworden sind. Man weiss, dass jedes verlorene Bruchstück eines alten Schriftstellers, jede Notiz eines pedantischen Grammatikers oder eines Byzantinischen Hofpoeten, jeder zerbrochene Grabstein eines römischen Beamten, der sich in einem unbekannten Winkel Ungarns, Spaniens oder Afrikas vorfindet, eine Nachricht oder ein Beweisstück enthalten kann, welches an seiner Stelle wichtig sein möchte; und so ist denn wieder eine andere Zahl von Gelehrten mit der Ausführung des riesigen Unternehmens beschäftigt, alle Reste des klassischen Alterthums, welcher Art sie sein mögen, zu sammeln und zu katalogisiren, damit sie zum Gebrauch bereit seien. Nehmen Sie dazu das historische Quellenstudium, die Durchmusterung der in den Archiven der Staaten und der Städte aufgehäuften Pergamente und Papiere, das Zusammenlesen der in Memoiren, Briefsammlungen und Biographien zerstreuten Notizen, und die Entzifferung der in den Hieroglyphen und Keilschriften niedergelegten Documente; nehmen Sie dazu die noch immer an Umfang schnell wachsenden systematischen Uebersichten der Mineralien, der Pflanzen und Thiere, der lebenden wie der vorsündfluthlichen, so entfaltet sich vor unserem Blicke eine Masse gelehrten Wissens, welche uns schwindeln macht. In allen diesen Wissenschaften nimmt der Kreis der Forschung noch fortdauernd in demselben Maasse zu, als die Hülfsmittel der Beobachtung sich verbessern, ohne dass ein Ende abzusehen ist. Der Zoologe der vergangenen Jahrhunderte war meist zufrieden, wenn er die Zähne, die Behaarung, die Bildung der Füsse und andere äusserliche Kennzeichen eines Thieres beschrieben hatte. Der Anatom dagegen beschrieb die Anatomie des Menschen allein, so weit er sie mit dem Messer, der Säge und dem Meissel, oder etwa mit Hülfe von Injectionen der Gefässe ermitteln konnte. Das Studium der menschlichen Anatomie galt schon als ein entsetzlich weitläufiges und schwer zu erlernendes Gebiet. Heut zu Tage begnügt man sich nicht mehr mit der sogenannten gröberen menschlichen Anatomie, welche fast, wenn auch mit Unrecht, als ein erschöpftes Gebiet angesehen wird, sondern die vergleichende Anatomie, d. h. die Anatomie aller Thiere, und die mikroskopische Anatomie, also Wissenschaften von einem unendlich breiteren Inhalte, sind hinzugekommen und absorbiren das Interesse der Beobachter.

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