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Ein Blick auf die Love Parade (1995)

Ein britischer Journalist beschreibt Entstehung und Attraktivität der Love Parade, eines der größten Straßenfestivals der Welt. Er fragt, ob die Parade tatsächlich eine politische Demonstration für den Frieden ist, wie es die Veranstalter behaupten, ein popkulturelles Phänomen oder lediglich eine riesige Party, die von jugendlichem Überschwang und Exhibitionismus angetrieben wird. Der Autor war mit seinen Zweifeln nicht allein: 2001 entschied ein deutsches Gericht, dass die Love Parade keine politische, sondern eine kommerzielle Veranstaltung ist. 2007 zog die als Markenzeichen eingetragene Love Parade von Berlin ins Ruhrgebiet um, doch ihre Probleme folgten ihr an den neuen Ort. Schwierigkeiten bei der Finanzierung und Organisation bestehen weiterhin, und ihre Auswirkungen auf die Umwelt (d.h. Schäden auf der Veranstaltungsfläche sowie die anschließende Straßenreinigung) stellen ein kontinuierliches Problem dar.

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Berliner Cabaret, alter Kumpel

Matthew Collin feiert mit den Ravern auf einem der größten Straßenfeste Europas


„Scotty, mehr Energie!“ Die Dose Warp 4 Star Trek-Limonade auf dem Stand vor uns trägt das Mantra des Augenblicks. Wir erreichten den Wittenbergplatz gegen 14 Uhr, doch selbst zu diesem Zeitpunkt, zwei Stunden vor Beginn der Parade, war der Platz bereits mit Körpern gefüllt, Fleisch, das sich zum Rhythmus eines Soundsystems bewegte. Am Morgen hatten wir die zunehmende Spannung gespürt, den Lärm der Autoradios, das Zusammenprallen der Beats, als die Leute in der Stadt ankamen und ihre Autos nebeneinander in den Seitenstraßen parkten. Als wir uns dem Platz näherten, drehte eine kitschige Boutique ihre Stereoanlage mit schepperndem Techno auf und zur Überraschung der Angestellten brach aus dem Nichts ein kolossaler Jubel aus. Mehr Energie! Die Temperatur nähert sich 35°C.

Eine Gruppe von Jungs, die Müllbeutel zu Regenmänteln umfunktioniert haben, streift durch die Menge, auf der Suche nach möglichen Opfern. Aus den Schlitzen ihrer merkwürdigen Aufmachung schauen monströse fluoreszierende Wasserpistolen hervor; es sieht so aus, als ob Wasserpistolen dieses Jahr das wesentliche Accessoire sind. Ein Tank Girl-Klon stolziert arrogant vorbei. Sie hat drei Kanister H2O-Reserve auf den Rücken geschnallt, in ihrer Hand zuckt eine Wasserkanone. Niemand wird sich mit ihr anlegen. Ein anderer Abschnitt des Platzes hat sich in eine Heckenschützenzone verwandelt – renn schnell durch und geh in Deckung, oder du riskierst eine Dusche. Wir kaufen eine kleine Spritzpistole für 20 DM (9 Pfund) von einem vorbeigehenden Waffenhändler. Nur für den Notfall.

Um genau 15.45 Uhr erscheinen die Festwagen auf dem Platz, jeder mit den Farben des Clubs oder der entsprechenden Stadt geschmückt, und versammeln sich für den Auftakt. Es scheint, als ob jeder Raver Europas hier ist. Orangefarbenes Haar, rotes Haar, grünes Haar, blaues Haar, kein Haar. Die Männer tragen nietenbesetzte Latzhosen, durchsichtige Schlaghosen, T-Shirts im Tarnmuster mit fluoreszierenden CND-Logos*; Herzen, Blumen und Sterne zieren Brustwarzen; Bärte erinnern an kunstvolle Formschnittgärtnerei im Gesicht.

Als sich der erste Lastwagen im Schneckentempo den zwei Meilen langen Kurfürstendamm, Berlins Oxford Street – nur vornehmer, hinunter bewegt, klettern die Leute auf Bäume, Straßenlampen und Fassaden. Der Druck der Masse und der Chor der Trillerpfeifen ist fast unerträglich, die Schwüle noch schlimmer. Das Wummern des Techno wird tiefer und das Lächeln auf den Gesichtern wird so breit wie diejenigen, die auf dem gemalten Transparent des nächsten Wagens zu sehen sind.

Die größte Conga-Schlange der Welt beginnt und Wasserpistolen schießen feuchte Grüße in die Luft – es geht los, es geht los! Die lokalen Zeitungen schätzen, dass bis zu 300.000 Menschen hier draußen in der Julihitze feiern. Am Anfang gab es jedoch nur einen Mann: ein Berliner DJ, der als Dr. Motte bekannt ist. Heute bedeutet Mottes Präsenz Glück, er ist der Schutzheilige des Tages. Oder wie ein Freund ihn beschreibt, „ein heiliger Narr, ein genialer Mann, eine Kraft für das Gute, aber komplett verrückt“.

Ihm kam die Idee – wie eingefleischte Clubgänger auf viele verrückte Ideen kommen – auf dem Höhepunkt einer ekstatischen Clubnacht. Lasst uns auf der Straße tanzen und ein Zeichen für Zusammenhalt und Frieden setzen, lasst uns ein Stück Himmel hier auf der Erde bauen. Lasst uns eine Love Parade feiern! Im Gegensatz zu den meisten Visionären der frühen Morgenstunden hatte Motte am nächsten Tag allerdings nicht alles vergessen. Er war entschlossen, seinen Plan durchzuführen.

„Ich wollte kein Geld ausgeben oder verdienen“, erinnert er sich. „In Deutschland ist das Recht zu demonstrieren im Grundgesetz verankert, aber wie und wofür ist dir überlassen“. Er setzte sich mit den Behörden in Verbindung, holte eine Genehmigung zu einer Demonstration ein, und im Sommer 1989 zogen 150 Freunde den Ku’damm entlang, während aus einer Anlage Acid House dröhnte und darüber auf einem Banner das Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ wehte.



* Campaign for Nuclear Disarmament, das Logo ist allgemein bekannt als Friedenszeichen – Hg.

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