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Gustav Freytag: Auszug aus einer Sammelrezension deutscher Romane (1853)

Wie Auerbach, war Gustav Freytag (1816-1895) ein prominenter und höchst erfolgreicher Schriftsteller des Realismus. Der folgende Auszug aus einer Rezension jüngst erschienener deutscher Romane veröffentlichte er 1853 in der von ihm herausgegeben Zeitschrift Die Grenzboten als Programm der realistischen Literatur. Er vertrat die Ansicht, dass Schriftsteller die Fülle der Realität genau beobachten und in das Leben eintauchen müssten, um Werke von „künstlerischer Wahrheit und Schönheit“ zu schaffen.

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Ist denn in der That das Leben um uns herum so arm an interessanten Gestalten, an erschütternden Begebenheiten, ja auch an großartigen Leidenschaften? Ueberall, – in fast jedem Kreise menschlicher Thätigkeit, in jeder Gegend des Vaterlandes, strömt trotz Allem und Allem das Leben doch immer so reichlich und so energisch, daß es einem Menschen, der Darstellungstalent hat und sich die Mühe nehmen will, das Leben selbst kennen zu lernen, nie und nirgend an den interessantesten Anregungen, Eindrücken und Motiven fehlen kann. Grade heraus, was uns fehlt, sind nicht die Bilder des Lebens, welche der Dichter zu verarbeiten hat, sondern die Dichterkraft, Augen, welche das Leben anzusehen wissen, Bildung, welche dasselbe versteht und Schönheitssinn, der dasselbe zu idealisiren weiß. Wenn doch nur einer von all den Romanen, welche im letzten Jahr in Deutschland geschrieben sind, uns das tüchtige, gesunde, starke Leben eines gebildeten Menschen, seine Kämpfe, seine Schmerzen, seinen Sieg so darzustellen wüßte, daß wir eine heitere Freude daran haben könnten. Wir haben doch in der Wirklichkeit eine große Anzahl tüchtiger Charaktere unter unsren Landwirthen, Kaufleuten, Fabrikanten u.s.w., deren Lebenslauf und Verhältnisse dem, der sie kennen lernt, das höchste menschliche Interesse einflößen; warum haben wir keinen Dichter, der Analoges für ein Kunstwerk verarbeitete? Und diese großen Kreise menschlicher Thätigkeit selbst, der Landbau, der Handel, die Industrie, bilden die Grundlage für so unzählig viele höchst interessante und auffallende Beziehungen der Menschen zu einander, für die erschütterndsten Leidenschaften und die allermerkwürdigsten Verwickelungen; warum haben unsre Dichter keine Feder, uns solche Erscheinungen der Wirklichkeit mit künstlerischer Wahrheit und Schönheit darzustellen? Die Antwort darauf ist leider, weil unsre Romanschriftsteller in der Mehrzahl sehr wenig, ja zuweilen so gut wie nichts von unsrem eigenen Leben, von dem Treiben der Gegenwart verstehen. Selbst J. Gotthelf wäre mit all seiner Gestaltungskraft nicht im Stande, seine Bilder zu schreiben, wenn er nicht jahrelang unter den Bauern gelebt, ihren Haushalt, ihre Thätigkeit, ihre Freuden und Leiden bis in's kleinste Detail kennen gelernt hätte.

Die meisten unsrer deutschen Dichter nehmen sich die Freiheit, das Treiben der Gegenwart zu schildern, ohne die Thätigkeit der Menschen, welche sie darstellen wollen und den Einfluß, welchen diese Thätigkeit auf Gemüth und Anschauungen hat, hinreichend zu kennen. Sie suchen das Poetische immer noch im Gegensatz zu der Wirklichkeit, gerade als wenn unser wirkliches Leben der Poesie und Schönheit bar wäre, und doch ist in dem Leben jedes praktischen Landwirths, jedes Geschäftsmannes, jedes thätigen Menschen, welcher bestimmte Interessen mit Ernst und Ausdauer verfolgt, mit der Ausübung seiner Thätigkeit viel mehr poetisches Gefühl verbunden, als in den Romanen zu Tage kommt, in welchen unsre Dichter schattenhafte Helden in den allerunwahrscheinlichsten Situationen dem wirklichen Leben wie ein Gegenbild gegenüberstellen. Und deshalb sollte Jeder, welcher Romane schreiben will, sich zuerst doch die kleine Mühe geben, selbst ein tüchtiger Mann zu werden, das heißt, in irgend einem Kreise menschlicher Interessen heimisch, durch eine ausdauernde und männliche Thätigkeit in die große Kette der kräftigen Menschen als ein nützliches Glied eingefügt.



Quelle: Gustav Freytag, „Deutsche Romane" [Sammelrezension], in Die Grenzboten 12/1 (1853), S. 77-80, 157-60.

Auch abgedruckt in Max Bucher, Werner Hal, Georg Jäger und Reinhard Wittmann, Hg., Realismus und Gründerzeit: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, 2 Bände. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975, Band 2, S. 71-72.

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