GHDI logo


DDR-Nostalgie (1996)

In den Medien macht Mitte der neunziger Jahre das Thema einer vermeintlichen DDR-Nostalgie Schlagzeilen. Hans-J. Misselwitz, ehemals aktives Mitglied der Friedensbewegung in der DDR, analysiert kritisch einige der westlichen Presseberichte zu diesem Thema. Er widerspricht der These von der DDR-Nostalgie. Vielmehr seien politische und mentale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen das Ergebnis bestimmter historischer Erfahrungen und seien zu erwarten gewesen.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


Wiederkehr der DDR?


Glaubt man den im Sommer 1995 vom Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL als Sensation verkauften Meinungsumfragen, so ergibt sich derzeit eine paradoxe Lage*: Obwohl die Ostdeutschen beständig mehrheitlich betonen, daß sich ihre wirtschaftliche Lage seit der Vereinigung verbessert habe, äußern sie sich zunehmend vom Verlauf des Einigungsprozesses enttäuscht, und gar drei Viertel sehen sich als „Bürger 2. Klasse“ in Deutschland. Die DDR wünschen sich zwar nur noch 15 Prozent zurück. So wenige, wie noch nie zuvor. Trotzdem behaupten neuerdings 75 Prozent der neuen Bundesbürger, sie seien stolz auf ihr Leben in der DDR. Fünf Jahre nach der deutschen Einheit glauben sogar stattliche Mehrheiten unter den Ostdeutschen, daß in sieben von neun wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereichen die Verhältnisse in der DDR besser waren, als sie im vereinten Deutschland sind. Damit hat sich bei den Ostdeutschen ein tiefgreifender Meinungsumschwung über die Zustände im Westen eingestellt, denn 1990 erschien ihnen die Bundesrepublik in wenigstens sechs von neun Vergleichsfeldern überlegen!

Die Wiedergeburt eines ostdeutschen Wir-Gefühls als eine Reaktion auf die Begleitumstände des Vereinigungsprozesses ist allerdings längst im Gange. Statt wachsendem Miteinander stellte sich schon im Sommer 1992 ein geradezu umgekehrtes Bild gegenüber 1990 ein: 51 Prozent der Ostdeutschen sahen sich damals eher wieder als „Bürger der (ehemaligen) DDR“, denn schlicht als „Deutsche“ (40 Prozent). Dagegen hielten sich im Zeichen der Wiedervereinigung 1990 bereits 66 Prozent der Noch-DDR-Bürger für „Deutsche“, und lediglich 28 Prozent sahen sich noch als „DDR-Bürger“.**

Die in dieser Form vielleicht nie dagewesene Identifikation der Ostdeutschen mit der DDR läßt sich – weil schon einmal überwunden – gerade nicht als Ausfluß einer mitgebrachten ideologischen Beschränktheit abtun. Die Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Lage hat sich seit 1992 nicht wesentlich verändert. Festzustellen ist vielmehr, daß sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung immer weniger politisch in der Bundesrepublik beheimatet sieht. Teilten die Menschen etwa mehr mit ihrem Staat, als der Staat mit ihnen teilte?

Die gegenwärtigen Befunde deuten Meinungsforscher so, daß „sich die Ostdeutschen in Phase III ihrer Entwicklung (befinden), in der sie dem Westen materiell immer näher kommen, sich aber mental immer weiter entfernen.“ Nach der Phase der Glorifizierung des Westens und einer Phase der resignativen Ernüchterung bis 1994, greift eine neue Ost-Identität um sich. „Wo früher nur verschämt Aufklärung geleistet wurde, stehen die Ostdeutschen nun zu ihrer Vergangenheit, vor allem aber zur Selbstbestimmung ihrer Zukunft.“***



* Der Speigel, Nr. 27/3.7.1995: „Stolz aufs eigene Leben“. Die Angaben stammen aus einer im Auftrag der Zeitschrift durchgeführten Trend-Studie des Meinungsforschungsinstitutes Emnid.
** Elisabeth Noelle-Neumann, „Aufarbeitung der Vergangenheit im Schatten der Stasi“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 181, 6.8.1992, S. 8.
*** Klaus Peter Schöppner, Geschäftsführer des Bielefelder Meinungsforschungsinstitutes Emnid, in der Berliner Zeitung vom 1.8.1995, S. 4.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite