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Die Vereinigung macht Fortschritte (2. Oktober 1995)

In einem Leitartikel in der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel erinnert der Journalist Hermann Rudolph den Leser daran, dass trotz aller Schwierigkeiten der Vereinigungsprozess Fortschritte macht. Es sei Zeit, so Rudolph, die Errungenschaften der deutschen Einheit zu benennen, ohne gleichzeitig die nach wie vor bestehenden Probleme aus den Augen zu verlieren.

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Die meisten Probleme sind lösbar


Fünf Jahre gibt es die deutsche Einheit. Aber wie lange ist es her, gemessen an unseren Erinnerungen, daß Westdeutsche und West-Berliner in Dreilinden oder Herleshausen in der Warteschlange vor der Grenzkontrolle standen? Und wann war das, daß die Ostdeutschen die Jahre bis zum Rentenalter hochrechneten, zu dem die ersehnte Westreise möglich wurde? Liegt das zehn Jahre zurück? Oder fünfzehn? Man muß das Gedankenspiel gar nicht in solche fiktiven Jahresspannen einkleiden, um sich klarzumachen, wie wenig man das, was sich seit der Wende vollzogen hat, an den seither vergangenen Jahren messen kann. Damit sollen nicht Schwierigkeiten verharmlost und Konflikte weichgezeichnet werden. Aber daß einerseits eine Vergangenheit ins fast Nebulöse zurücksinkt, die andererseits noch immer kräftig in die Gegenwart hineinreicht, ist doch vor allem die Folge realer, tiefgreifender Veränderungen. Nichts macht so deutlich, daß wir hinter diese Jahre nicht mehr zurückkönnen, wie die Schwierigkeiten, die es uns bereitet, dahinter zurückzudenken. Und gibt diese Verschiebung unseres Zeitgefühls nicht vielleicht einen besseren Eindruck davon, wie weit die Einheit bereits vollzogen, mithin zu unser aller Wirklichkeit geworden ist, als die meisten Statistiken, demoskopischen Fliegenbeinzählereien und bemühten Bilanzen?

Natürlich ist gar nicht in Zweifel zu ziehen, daß der Zustand der deutschen Einheit in ihrem fünften Jahr viele Wünsche offenläßt. Aber mittlerweile ist es an der Zeit, ihn in Schutz zu nehmen, nicht nur gegen seine Kritiker, sondern auch gegen die Diagnostiker, die da vor allem Entfremdung und Mentalitätskonflikte erkennen und die innere Einheit beschwören. Möglicherweise ist es gerade dieses hochgemute Ziel, das vom Fortschreiten der Einheit ablenkt. Denn es gehört zu jenen idealen Vorstellungen, vor denen sich jeder konkrete Schritt zu blamieren droht.

Längst sind ja Ost und West auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden, haben nicht nur die »alten« Bundesländer die »neuen« »kolonisiert« – um das Reizwort zu verwenden, das alle Vorurteile mobilisiert –, sondern hat auch der Osten kraft Gesetz und Wählerstimme seinen Anteil, wie unvollkommen auch immer, am politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben der ganzen Bundesrepublik. Und was die Klage angeht, Ost und West seien sich in den letzten Jahren fremder geworden, so ist sie doch gerade die Kehrseite des, zugegeben, nicht einfachen Prozesses des Einander-Kennen-Lernens. Was kannten denn Wessis und Ossis »vorher« voneinander? Die Westdeutschen wußten kaum noch, wo Rostock oder Cottbus liegt, und hielten Dynamo Dresden für den Namen eines Elektrizitäts-Werks, die Ossis bekamen den Westen in Form von Appetit-Häppchen verabreicht. Nun mischen sich in den Schlagzeilen einträchtig oder, öfter noch, strittig die Neuigkeiten aus ost- und westdeutschem Gelände, von der Stasi bis zu Boris Becker.

Das alles macht, das ist wahr, die Probleme des vereinigten Deutschland nicht kleiner. Aber diese Probleme haben Namen. Sie heißen: De-Industrialisierung, Verteilungskonflikte, »Rückgabe statt Entschädigung«, fortdauernde Ungleichgewichtigkeit bei Einkommen, politischen Ämtern, Besitz- und Vermögensverhältnissen. Die meisten davon sind lösbar, einige rascher, viele nur über sehr lange Zeiträume hinweg. Aber es wäre hasenfüßig und unhistorisch zu befürchten, die Anstrengungen, die es erfordern wird, ihrer Herr zu werden, müßten die Einheit beschädigen. Auch und gerade in ihnen wächst sie, ächzend, aber unaufhaltsam. Es mag sein, daß sie längst weiter ist, als wir glauben.



Quelle: Hermann Rudolph, „Die meisten Probleme sind lösbar“, Tagesspiegel, 2. Oktober 1995.

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