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Die Vereinigungskrise (31. Dezember 1992)

Der Münchener Historiker Christian Meier spricht sich dafür aus, die Probleme in Deutschland mit dem Begriff der „Vereinigungskrise“ auf den Nenner zu bringen, um deren Ausmaß angemessen zu würdigen. Die Gründe für diese Krise sieht er in den unterschiedlichen Identitäten von Ost- und Westdeutschen, der ungleichen Verteilung der Lasten der Vereinigung und den Erwartungen, die mit der Vereinigung verbunden waren.

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Nichts trennt die Menschen mehr als Vereinigung
Die deutsche Krise: warum man auf beiden Seiten so misstrauisch ist

Deutschland macht zur Zeit eine Krise durch – die Vereinigungskrise. Wie schwer sie ist, ist noch nicht abzusehen. Sie spielt sich zwar wesentlich unter den Deutschen ab. Doch vollzieht sie sich im weiteren Zusammenhang der langfristigen Krise des ehemaligen Ostblocks und des Weltsystems im ganzen, der die Vereinigung verdankt wird und die deren Problematik außerordentlich verschärft. Die Integration der deutschen Gesellschaft wird, bevor sie nennenswert in Gang gekommen ist, schon auf schwierigste Proben gestellt.



Krise bedeutet ursprünglich Entscheidung oder Entscheidungssituation. Auf ein System angewandt ist es der Zustand stärkerer Störung oder Infragestellung. Zu ihr gehört grundsätzlich die Möglichkeit, dass Abwehrkräfte entwickelt werden. Krise bedeutet nicht (jedenfalls nicht unbedingt) Katastrophe.

Dass das Wort Krise normalerweise auf den Vereinigungsprozess nicht angewandt wird, halte ich für einen Fehler. Es trägt dazu bei, dass die Sache zu leicht genommen wird. Feldzüge geraten in der Regel in große Schwierigkeiten (oder gehen gar verloren), wenn man die Lage nicht richtig analysiert. Vereinigungsprozesse solchen Ausmaßes offenbar auch.

Die Positionen zwischen Ost- und Westdeutschland haben eine lange Vorgeschichte. Mehr als 40 Jahre des Auseinanderlebens, zunächst in den getrennten Zonen und Staaten, dann im vereinigten Deutschland. Es hat dazu geführt, dass sich in BRD und DDR zwei gegensätzliche kollektive Identitäten ausbildeten.

Die BRD fand, dank ihrer außerordentlichen Erfolge, über viele Unsicherheiten und Zweifel hinweg zu einem kräftigen Selbstbewusstsein. Man stimmte überein mit dieser Gesellschaft. Von der DDR kann man das gleiche zwar nicht behaupten, die meisten ihrer Buerger wollten weder das Regime noch das System noch den eigenen Staat. Aber sie mussten sich darin gleichwohl einrichten, sie brauchten auch irgendeinen Stolz. Sie mussten das Gefälle der großen Unsicherheit zwischen den beiden deutschen Staaten und dessen, zum Teil recht unangenehme, Äußerungen aushalten.

Im Westen waren einerseits noch die alte Kommunistenangst lebendig, der Hass auf das SED-Regime, insgesamt der Antikommunismus, der für die Anfänge der Bundesrepublik geradezu konstitutiv war. Andererseits gab es das Mitgefühl mit den sogenannten Brüdern und Schwestern. Dann begann sich das zu kontaminieren. Die Brüder und Schwestern gerieten irgendwie in Verdacht, auch Täter (oder Täter und Opfer zugleich) zu sein, zumindest wusste man nicht recht, woran man mit ihnen war. Und wenn man es näher wissen wollte, wurde es noch komplizierter, weil sie die Bekenntnisse gegen das Regime so simpel oder wenigstens so überzeugend – und noch dazu den verständnislosen Westmenschen gegenüber – meist auch nicht ablegen wollten. So war man einander teils vertraut, teils fremd.

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