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Theodor Fontane beschreibt eine konservative Wahlkampagne im ländlichen Brandenburg (1880er Jahre)

Die folgende Textpassage stammt aus Theodor Fontanes 1899 veröffentlichtem Roman Der Stechlin. Es handelt sich um ein fiktives Werk, doch die hier vorliegende Schilderung beleuchtet viele Aspekte ländlicher Wahlen im kleinstädtischen Deutschland der Bismarckzeit. Fontanes Hauptcharakter, Dubslav von Stechlin, ist ein Adliger aus der Mark Brandenburg. Er wird Reichstagskandidat der Konservativen Partei für den Wahlkreis Rheinsberg-Wutz, einer traditionellen Hochburg der Konservativen. Als Politiker dazu gezwungen, die Unterstützung der gewöhnlichen Leute zu suchen, ist Stechlin darin weder erfahren noch besonders bereit dazu, doch ist er vor Ort bekannt und hat in einer Zeit, als persönliche Politik erst von Parteimaschinerien abgelöst werden musste, gute Chancen, gewählt zu werden. Die konkurrierenden Kandidaten vertreten die Fortschrittspartei und die Sozialdemokraten. Stechlin lehnt es ab, einen aktiven Wahlkampf zu führen: sein Charakter ist seine Plattform. Doch sowohl Stechlin als auch Fontane wissen, dass die Zeiten sich ändern und ein modernerer Stil der politischen Wahlkampfführung sich auszuzahlen beginnt. Stechlin verliert die Wahl und der Sozialdemokrat gewinnt.

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Wahl in Rheinsberg-Wutz

Siebzehntes Kapitel

Es war so, wie die Tante geschrieben: Dubslav hatte sich als konservativen Kandidaten aufstellen lassen, und wenn für Woldemar noch Zweifel darüber gewesen wären, so hätten einige am Tage darauf von Lorenzen eintreffende Zeilen diese Zweifel beseitigt. Es hieß in Lorenzens Brief:

»Seit Deinem letzten Besuch hat sich hier allerlei Großes zugetragen. Noch am selben Abend erschienen Gundermann und Koseleger und drangen in Deinen Vater, zu kandidieren. Er lehnte zunächst natürlich ab; er sei weltfremd und verstehe nichts davon. Aber damit kam er nicht weit. Koseleger, der was ihm auch später noch von Nutzen sein wird - immer ein paar Anekdoten auf der Pfanne hat, erzählte ihm sofort, daß vor Jahren schon, als ein von Bismarck zum Finanzminister Ausersehener sich in gleicher Weise mit einem 'Ich verstehe nichts davon' aus der Affaire ziehen wollte, er der bismarckisch-prompten Antwort begegnet sei: 'Darum wähle ich Sie ja gerade, mein Lieber' - eine Geschichte, der Dein Vater natürlich nicht widerstehen konnte.

Kurzum, er hat eingewilligt. Von Herumreisen ist selbstverständlich Abstand genommen worden, ebenso vom Redenhalten. Schon nächsten Sonnabend haben wir Wahl in Rheinsberg, wie immer, fallen die Würfel. Ich glaube, daß er siegt. Nur die Fortschrittler können in Betracht kommen und allenfalls die Sozialdemokraten, wenn vom Fortschritt (was leicht möglich ist) einiges abbröckelt. Unter allen Umständen schreibe Deinem Papa, daß Du Dich seines Entschlusses freutest. Du kannst es mit gutem Gewissen. Bringen wir ihn durch, so weiß ich, daß kein Besserer im Reichstag sitzt und daß wir uns alle zu seiner Wahl gratulieren können.

Er sich persönlich allerdings auch. Denn sein Leben hier ist zu einsam, so sehr, daß er, was doch sonst nicht seine Sache ist, mitunter darüber klagt. Das war das, was ich Dich wissen lassen mußte. 'Sonst nichts Neues vor Paris.' Krippenstapel geht in großer Aufregung einher; ich glaube, wegen unsrer auf Donnerstag in Stechlin selbst angesetzten Vorversammlung, wo er mutmaßlich seine herkömmliche Rede über den Bienenstaat halten wird. Empfiehl mich Deinen zwei liebenswürdigen Freunden, besonders Czako. Wie immer, Dein alter Freund Lorenzen.«

Woldemar, als er gelesen, wußte nicht recht, wie er sich dazu stellen sollte. Was Lorenzen da schrieb, »daß kein Besserer im Hause sitzen würde«, war richtig: aber er hatte trotzdem Bedenken und Sorge. Der Alte war durchaus kein Politiker, er konnte sich also stark in die Nesseln setzen, ja vielleicht zur komischen Figur werden. Und dieser Gedanke war ihm, dem Sohne, der den Vater schwärmerisch liebte, sehr schmerzlich. Außerdem blieb doch auch immer noch die Möglichkeit, daß er in dem Wahlkampf unterlag.

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