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Eine Neueinschätzung des deutschen Liberalismus: Hermann Baumgartens Selbstkritik (Anfang Oktober 1866)

Hermann Baumgarten (1825-1893) war Historiker, politischer Publizist und nach 1872 Professor für Geschichte an der Reichsuniversität Straßburg. Er galt als Verfechter des Liberalismus und arbeitete ab 1859 in Max Dunckers „Literarischem Büro“ (Zentralpressstelle), das die preußische Regierung zur Verbreitung ihrer Propaganda benutzte. Seit 1861 hatte er auch eine Lehrstelle am Polytechnikum in Karlsruhe inne. Im Herbst 1866 rang Baumgarten innerlich zwischen Loyalität zu liberalen Prinzipien und der Akzeptanz von Bismarcks militärischen und politischen Erfolgen. Daraufhin veröffentlichte er einen erweiterten Aufsatz, der in die letztere Richtung tendierte und eine „Selbstkritik“ des deutschen Liberalismus präsentierte. Baumgartens Aufsatz spielte insofern eine bedeutende Rolle, als er die liberalen Anhänger Bismarcks davon überzeugte, 1867 die Nationalliberale Partei zu gründen. Dieser Aufsatz, hier in Auszügen wiedergegeben, wurde in der ersten Oktoberwoche 1866 in Karlsruhe fertig gestellt; er erschien erstmals in den Preußischen Jahrbüchern und wurde rasch in Buchform nachgedruckt.

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Der Frühling dieses Jahres [1866] brachte endlich die lange drohende Katastrophe zum Ausbruch. Jedermann weiß, wie die dinge seit der Mitte März sich gestalteten. Das Verhältnis zwischen Preußen und Österreich, zwischen Preußen und den Mittelstaaten drängte zur Entscheidung. Die innere Lage Preußens und Deutschlands schien für ein Unternehmen, wie es Graf Bismarck sich vorgenommen hatte, die ungünstigste von der Welt, die europäische Lage dagegen lockte mit der seltensten Gunst. Die inneren Verhältnisse ließen es allerdings voraussehen, daß die öffentliche Meinung sich der preußischen Politik mit aller Macht entgegenstemmen werde. Aber einmal hatte eine mehrjährige Erfahrung bewiesen, daß diese Meinung einen entschlossenen Willen nicht zu hemmen vermöge, und dann boten eben diese Schwierigkeiten doch auch wieder gewisse Vorteile. Die Politik der konservativen Partei in Preußen ruhte auf dem guten Einvernehmen mit Österreich. Preußen hatte nur zwei Wege vor sich: entweder zusammen mit Österreich die deutschen Dinge zu leiten, oder sich trotz Österreich der deutschen Macht allein zu bemächtigen. Der letztere Weg, da er die Mittelstaaten unbedingt auf die österreichische Seite trieb, schloß für Preußen die zwingende Notwendigkeit in sich, an die populären Kräfte zu appellieren, sogar vor mehr oder weniger revolutionären Schritten nicht zurückzuscheuen. Graf Bismarck hatte früh in den fünfziger Jahren die Überzeugung gewonnen, daß die Eintracht mit Österreich nur möglich sei für ein Preußen, das sich resigniere, zu bleiben was es war, die zweite abhängige Macht in Deutschland, die letzte in Europa. Er wollte Preußen aus dieser wenig würdigen und befriedigenden Stellung befreien; er sah dafür nur die angegebene Möglichkeit, und er akzeptierte dieselbe, so wenig sie mit seiner ursprünglich konservativen Richtung harmonierte.

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Graf Bismarck hatte den Mut, das große Spiel zu wagen, und er bewies die Kraft und die Klugheit, welche dem Staatsmann erlaubt zu wagen. Fast alles war gegen ihn. Die Konservativen hielten ihre Opposition stiller, um desto mehr unter der Hand zu tun, die Liberalen erhoben ein Friedensgeschrei, das über die Gesinnung des Volkes keinen Zweifel ließ. Das preußische, wie jedes gebildete, in geordneten Zuständen lebende Volk wird immer gegen einen Krieg sein, dessen absolute Notwendigkeit nicht offen zutage liegt. Nicht allein die Liberalen und die Konservativen, sondern auch jene sehr große Zahl von Menschen, für welche Parteigesichtspunkte nicht entscheiden, sahen diesen Krieg in der ungeheuren Mehrheit für eine große Kalamität an. Für Preußen stand unendlich viel dabei auf dem Spiel. Er verlangte von jedem einzelnen die größten Opfer. Er widersprach allem, was man seit Jahren von deutscher Einigkeit und Brüderlichkeit gesagt und gesungen hatte. Die Kameraden von Schleswig, die Kameraden von Leipzig sollten die Waffen gegeneinander kehren. Da Preußen augenscheinlich der offensive Teil war, traf alle Gehässigkeit des Bruderkrieges seine Politik. Die Situation gestaltete sich bald so, daß Österreich mit beiden Händen eine unvergleichliche Gelegenheit meinte ergreifen zu müssen, um Preußen für immer unschädlich zu machen.

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