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August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Gründerlieder (1872)

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) war ein deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts, der die größte Bekanntheit mit seinem Deutschlandlied von 1841 erlangte, das zusammen mit der Melodie von Joseph Haydns (1732-1809) Kaiserquartett die deutsche Nationalhymne ergab. In diesem zweiteiligen Auszug aus seinen Gründerliedern verspottet Fallersleben die wohlhabenden Bürger aus dem Mittelstand, die von dem wirtschaftlichen Boom der Gründerjahre nach der deutschen Reichseinigung von 1871 profitierten. Die letzte Zeile jedes Abschnitts spielt auf die überhitzte Börsenspekulation an, die zu den Bankenzusammenbrüchen von 1872-1873 führte, und auf das, was früher als die „Große Depression“ von 1873-1896 bezeichnet wurde.

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I. Gründers Morgenlied

Verschwunden ist die dunkle Nacht,
Schon glänzt die Börs’ in neuer Pracht,
Zu leichtem Leben ist erwacht
Was noch in schweren Träumen lag,
Und seinen Kurs beginnt der Tag.

Ich atme auf vor Sorg’ und Mühn,
Es ist um mich so frühlingsgrün,
Und wie die Blumen draußen blühn,
So blühet mir ein neuer Mut,
Und meine Aktien stehen gut.


II. Gründers Mittagslied

Ich bin ein Gründer froh und frisch,
Schon heute setz’ ich mich zu Tisch
Als dürft' ich weiter mich nicht quälen
Als meine Zinsen nur zu zählen.

Gottlob, ich weiß mir selber Rat,
Nichts soll mich kümmern Stadt noch Staat:
Dem Gründerleben treu ergeben
Verschaff’ ich mir ein würdig Leben.

Was gehet das Verdienst mich an?
Nur der Verdienst ist noch mein Mann:

Ich will mir flechten selbst zum Lohne
Aus Aktien eine Bürgerkrone.



Quelle: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Gründerlieder (1872).

Abgedruckt in Wolfgang Piereth, Hg., Das 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, 1815-1918, 2. Aufl. München: Beck, 1997, S. 93.

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