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Theodor Fontane über die deutsche Stimmungslage während des Krieges mit Frankreich (5. August 1870)

Theodor Fontane (1819-1898), der erst im Alter Romanautor wurde, betrachten viele als den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des Realismus im 19. Jahrhundert. 1848 nahm er kurzzeitig an Deutschlands revolutionären Umwälzungen teil; später war er als Mitarbeiter beim führenden Organ der Konservativen tätig, der Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung. Der Text unten ist ein Auszug aus einem Brief an seine Frau Emilie, den er am 5. August 1870, also zwei Wochen nach Frankreichs Kriegserklärung an Preußen verfasst hatte. Theodor und Emilie waren seit 1850 verheiratet, wegen Fontanes häufigen Reisen spielten Briefe eine wichtige Rolle in ihrer Beziehung. In dem vorliegenden Exemplar bringt Fontane sein Unbehagen über den Krieg zum Ausdruck. Er meint, dass Deutschland und seine Menschen von den „dunklen Mächten“ der „wilden Jagd“ getrieben worden seien – ein Bild aus der deutschen Mythologie, das ein Geisterheer vergegenwärtigt.

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An Emilie Fontane
5. August 1870

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Das ganze wirkt auf mich wie eine kolossale Vision, eine vorüberbrausende Wilde Jagd, man steht und staunt und weiß nicht recht, was man damit machen soll. Eine durch Eisenbahnen regulierte Völkerwanderung, organisierte Massen, aber doch immer Massen, innerhalb deren man selbst als ein Atom wirbelt, nicht draußen stehend, beherrschend, sondern dem großen Zuge willenlos preisgegeben. Es ist, wie wenn es in einem Theater heißt: »Es brennt«; fortgerissen einem Ausgange zu, der vielleicht keiner ist, mitleidslos gedrückt, gestoßen, gewürgt, ein Opfer dunkler Triebe und Gewalten. Manche lieben das, weil es ein »excitement« ist; – ich bin zu künstlerisch organisiert, als daß mir wohl dabei werden könnte.

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Quelle: Theodor Fontane, Brief an seine Frau Emilie Fontane, 5. August 1870.

Abgedruckt in Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, herausgegeben von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Zweiundzwanzig Dünndruckbände in vier Abteilungen. Abteilung IV, Briefe, Bd. 2, 1860-1878 © 1979 Carl Hanser Verlag: München, S. 326.

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