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Bundespräsident Richard von Weizsäcker über „Deutsch-Sein” (1986)

In einer weit ausholenden Rede versucht Bundespräsident Richard von Weizsäcker, eine positive Antwort auf die Frage nach der deutschen Identität zu finden, indem er die Geschichte, die Sprache, die Geographie, die Kunst sowie die Demokratie als gemeinsame Charakteristika anführt und die Verantwortung für das Zusammenwachsen Europas als Aufgabe für die Zukunft definiert.

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Was ist das eigentlich: deutsch?


Deutsch zu sein ist zunächst ein naturgegebener Sachverhalt. Es ist die Folge der Tatsache, in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, die deutsche Sprache zu sprechen, sich natürlicherweise hier zu Hause zu fühlen und damit Teil des eigenen Volkes zu sein. Ich bin Deutscher, wie ein Franzose ein Franzose ist oder ein Italiener ein Italiener. Dies ist weder ein Makel noch ein Verdienst. Man hat es sich nicht ausgesucht, genausowenig wie die Zeit, in der man lebt und die einen prägt, das ausgehende 20. Jahrhundert.

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Die Tatsache, daß ich Deutscher bin, durchdringt mein Leben auf vielfältige Weise, ob ich mir dessen bewußt bin oder nicht. Die deutschen Traditionen der Geschichte, des Geistes und der Kultur, der Gefühle, des Glaubens haben meine Geschichte, meine Kultur, meine Gefühle und meinen Glauben mitbestimmt. Mit diesen Traditionen muß ich mich auseinandersetzen, sei es in Zustimmung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Mein Deutschsein tritt mir in der historisch gewachsenen Form entgegen, die es in meiner Zeit angenommen hat. Ich werde durch sie bedingt, aber ich bin ihr nicht willenlos ausgeliefert. Denn der Mensch ist frei. Auch wenn er nicht über Zeit und Ort seiner Geburt verfügt, so kann er doch die Bedingungen beeinflussen und ändern, unter denen er lebt. Er kann den historisch überlieferten Traditionen einen neuen Inhalt geben. Das hat der Mensch stets unternommen. Alle menschliche Geschichte ist Wandlung, Veränderung. Damit ist die Geschichte selbst der wichtigste Beleg menschlicher Freiheit, den wir haben.

Betrachtet man die Dinge so, dann ist mein Deutschsein kein unentrinnbares Schicksal, sondern vielmehr eine Aufgabe. Die Frage, was das eigentlich sei: deutsch?, ist dann eine Frage, die ich vor mir selbst und vor der Geschichte beantworten muß. Ich bin mitverantwortlich, daß dieser Begriff einen Inhalt hat, den ich verantworten kann. Um meinen Begriff des Deutschen zu finden, muß ich mich mit der Geschichte des Begriffes, mit seinem Inhalt und damit mit der Geschichte der Deutschen auseinandersetzen.

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