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Dokumente - Identitätsdebatten

Das Identitätsgefühl der Deutschen war aufgrund der politischen Umbrüche, der militärischen Niederlage und der unmenschlichen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs noch jahrzehntelang nach 1945 erschüttert. In einer Nation, deren jüngere Vergangenheit wenig Anlass zum Jubel gab, bot der Erfolg des Wirtschaftswunders einen alternativen Bezugspunkt für kollektiven Nationalstolz, der eine Art „Ersatz“-Grundlage für ein neues Selbstvertrauen bereitstellte (Dok. 1). Viele der besiegten Deutschen wollten sich die Tatsache ihrer Niederlage und die Ungeheuerlichkeit ihrer Vergehen nicht wirklich eingestehen. Kritische Psychiater warnten deswegen davor, dass eine „Unfähigkeit zu trauern“ möglicherweise zu Revanchismus führen könnte (Dok. 2). Die DDR versuchte, diese Belastung abzuschütteln, indem sie sich selbst als antifaschistischen Neuanfang definierte und sich „sozialistischer Staat auf deutschem Boden“ nannte, der jegliche Verbindung zur problematischen Vergangenheit von sich wies (Dok. 14). Westdeutsche Intellektuelle lehnten die problematische Tradition des Nationalismus gleichfalls ab, da sie diese für die Katastrophen der ersten Jahrhunderthälfte verantwortlich machten. Sie favorisierten einen stärker am Westen orientierten Begriff von „Verfassungspatriotismus“, dessen Bekenntnis zur Bonner Demokratie auf den Menschenrechten basierte (Dok. 6).

Die Teilung des Landes und die Entstehung zweier ideologisch feindseliger Nachfolgestaaten ließ die Vergangenheit jedoch nicht zur Ruhe kommen. Während konservative Westdeutsche sich entrüstet gegen die de-facto-Anerkennung der DDR zur Wehr setzten und die Bezeichnung ihres eigenen Staates als „BRD“ ablehnten (Dok. 3), weigerte sich die ostdeutsche Regierung in der endgültigen Verfassung von 1974, ihre Beziehung zu den Wurzeln der deutschen Geschichte einzugestehen und beschrieb sich selbst als „einen sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern“ (Dok. 4). Keiner der beiden Staaten konnte jedoch vor seiner Geschichte fliehen, denn Fragen über ihre jeweilige Beziehung zur gemeinsamen Vergangenheit brachen immer wieder auf, beispielsweise anhand des Problems, wie mit dem zwiespältigen Erbe Preußens umzugehen sei (Dok. 5). Im Westen durchbrach die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ schließlich die öffentliche Verweigerungshaltung, weil die Darstellung der Verstrickung von jüdischen Opfern, deutschen Tätern und Mitläufern beunruhigende Fragen über die Verantwortung der eigenen Familienmitglieder für den Völkermord aufwarf (Dok. 7). Der Regisseur Edgar Reitz näherte sich einigen dieser Themen in einem zwölf Stunden langen Fernsehfilm an, in dessen Mittelpunkt der mythische Begriff der „Heimat“ steht, symbolisiert anhand eines fiktiven Dorfes im Hunsrück. Reitz’ Ziel war es, die Verquickung von deutscher Täterschaft und Opferstatus am Beispiel von Normalbürgern aufzuzeigen (Dok. 9).

Auch wenn es immer wieder Versuche gab, die Schuld kleinzureden, wurde die „Last, Deutscher zu sein“ im Laufe der Zeit kaum geringer. Erst mehrere Jahrzehnte nach den Geschehnissen war die Gesellschaft fähig, das ganze Ausmaß ihrer Verantwortung einzugestehen (Dok. 8). Bundespräsident Richard von Weizsäcker versuchte, das „Deutsch-Sein“ von einem unentrinnbaren Schicksal in eine „Aufgabe“ für die Zukunft umzudeuten, um positive europäische Lehren aus den nationalistischen Exzessen der Vergangenheit zu ziehen (Dok. 10). Als der revisionistische Historiker Ernst Nolte sich gegen die erdrückende Last einer „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ wandte (Dok. 11), löste er damit einen erbitterten Streit unter Historikern aus. Linke Intellektuelle wie Jürgen Habermas vermuteten hinter dem Versuch, die Schuld zu relativieren, die Infragestellung des kritischen Selbstbildes der Bundesrepublik (Dok. 12). Unbeirrt von derartigen Skrupeln forcierten Politiker der moderaten Rechten wie Helmut Kohl die Gründung eines nationalen historischen Museums in Berlin und eines Museums der Bundesrepublik in Bonn, um den Deutschen einen positiveren Zugang zu ihrer Geschichte zu eröffnen (Dok. 13). Trotz kritischer Versuche, traditionellere Versionen des „Deutsch-Seins“ als durch die Vergangenheit diskreditiert abzulehnen, blieb ein allgemeines Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Ost und West über die Jahrzehnte der Teilung hinweg bestehen (Dok. 15).

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