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„Einhundertfünfzig pro Minute”, Berliner Tageblatt (4. September 1928)
Das Berliner Tageblatt war die einflussreichste Tageszeitung im Berlin der 1920er Jahre, es veröffentlichte Texte linkgerichteter Autoren wie Erich Kästner und Kurt Tucholsky sowie Arbeiten von Fotografen wie Alfred Eisenstaedt. Zwischen 1933 und 1939 räumte Propagandaminister Joseph Goebbels der Zeitung einen gewissen Freiraum ein, um den Anschein eines Maßes an Pressefreiheit aufrechtzuerhalten. Dieser Text von 1928 stammt aus einer Ausgabe, die sich dem Potsdamer Platz widmete.



Ein Viertel der Bevölkerung passiert um einviertelsieben Uhr den Potsdamer Platz. Herden von Automobilen, ja Herden, es handelt sich um Tiere, die die Fabel vom Zentauren wahrmachen; ihr Kopf ist menschlich und ihr Körper eine rasende Maschine; erleidet der Körper einen Schaden, so weiß der Kopf allein gar nichts anzufangen.

Anders sind die Autobusse, die Massen von Menschen kollektiv zusammenhalten, das Verdeck gleicht einem vollen Tafelaufsatz, der herumgereicht wird, bitte, bedienen Sie sich mit Menschen! Sollte oben der Vorrat ausgehen, oh, das macht gar nichts, unter dem Aufsatz ist noch eine gläserne Kassette mit stattlichen Reserven angefüllt. Ob die Menschen nicht schlecht werden, wenn man sie so aneinanderpreßt? Gegeneinander werden sie es jedenfalls – wie sie im überfüllten Autobus ihre Ellenbogen dem Nächsten in die Seite bohren und wie sie ihm oben, auf dem Verdeck, den Rauch ins harmlose Antlitz blasen. Sie lieben ihn in solcher Situation keinesfalls wie sich selbst.

Was macht man überhaupt mit so vielen Menschen, wer braucht denn so viele? Jedem einzelnen genügen doch, na, wie viele – zwanzig oder zehn oder zwei; meistens doch einer! Aber über diesen Platz allein bewegen sich pro Minute einhundertfünfzig stürmisch vorwärts.

Still stehen eigentlich nur die Zeitungsmänner; die vom Zentrum rechts, die von der Rechten links und die von der Linken in der Mitte (kompliziert, aber warum soll denn alles einfach sein?), die fast jedem Fußgänger schon zusammengefaltet etwas geistigen Inhalt auf den Weg mitgeben, und zwar eine politische Meinung, eine gewisse Kenntnis der neuesten Vorfälle und ein bißchen (wenn auch etwas feuilletonistisch verdorbene) Melancholie des Sommerabends – kurz, gegen Erlag von fünf bis zwanzig Pfennig alles, was ein kompletter Mensch an Empfindung und Wissen für einen Wochentagsabend braucht.

Was braucht er denn noch? Eine kleine körperliche Erfrischung (in Form von Zitroneneis), ein bißchen Nervenreiz (in Form von Kaffee), beides auch am Platz, und zwar im Vorgarten des Cafés erhältlich; ebenso etwas Erotik – Herr Ober bitte Erotik, eine halbe Portion –, da schlägt schon die Dame am Nebentisch die Beine übereinander, und dort klimmt ein Mädchen über steile Stufen einen Autobus hinan.

So viele Menschen und keine Gesichter – in welchen Massenartikel ist man da hineingeraten, da steht man hereingeschneit, das ist das rechte Wort. Wie ein Stück gefrorener Erde strahlt man inmitten der vielen fremden Menschen Kälte aus. Da wartet man, bis es einen warm anweht von einer oder von einem, die da vorübergehen, den Atem muß man spüren; die Alten nannten den Atem Seele; in den leeren Gesichtern muß man die Stelle suchen, die anders ist als alles, was man kennt: die Augen, die Abgründe öffnen, in die man hinuntersteigen kann; das Schicksal muß man hervorziehen, die Tragödie oder die Tragikomödie.

Ob dort zum Beispiel, in dem so schrecklich dicken Menschen, nicht eigentlich zwei Menschen stecken? Ob es sehr verwunderlich wäre, wenn er plötzlich anfinge, mit zwei Stimmen zu reden?

Jene, die im Vorgarten des Cafés für eine Zeitlang seßhaft geworden sind, haben, soweit sie mit Zeitungslektüre und erotischen Anfechtungen glücklich fertig wurden, noch eine erhebende Beschäftigung. Sie blicken ins Weite, sie genießen sinnend die Aussicht. Da prangen alle Farben einer entzückenden Landschaft, bei der allerdings auch etwas menschliche Kunst die Hand im Spiel zu haben scheint.

Welche Naturwunder begeben sich abends auf dem Platz? Da ist einmal das Abendrot. Es gibt auch ein Abendgrün und ein Abendgelb. Das glühende Rot ist naturwissenschaftlich aus dem Umstand zu erklären, daß ein großes Weinhaus bei einem Unternehmen für Lichtreklamen ein Jahresabonnement abgeschlossen hat. Das Grün und das Gelb sind in ähnlicher Weise durch ein Varieté und eine Schuhfabrik bedingt. In diesem Rot können Dichter bereits alle positiven Eigenschaften des Weins erleben; auch die anderen Farben schlagen so stark an die Phantasie mancher Menschen, daß ihnen alles, was nach diesem Erlebnis folgen konnte, etwa ein wirklicher Schuhkauf oder ein Varietébesuch, nur mehr als überflüssige Abschwächung erscheint. So schädigt oft die Reklame sich selber.

„Vorgarten“ heißt der Vorgarten des Cafés nicht ganz ohne Grund, es stehen sieben wirkliche Bäume da. Wie deren Wurzeln wohl zumute sein mag? Liegen sie in richtiger, schwarzfeuchter Erde, zwischen kleinen Steinen, Schnecken und Regenwürmern? Glauben sie, daß damit alles in Ordnung sei, oder fühlen sie die Nähe der Kanäle, der Telephon- und Telegraphenleitungen, der Untergrundbahn, die unter ihnen dahinfährt?

Ein Kabel geht jedenfalls zwischen zwei Wurzeln mittendurch eben, einviertelsieben Uhr, werden die nachbörslichen Kurse durchtelephoniert. Was meinen die Wurzeln dazu? Sie wollen sich gern tiefer in die dunkle Erde verkriechen, da stoßen sie schon an ein Lichtkabel. Daß das nur keinen Kurzschluß gibt!

Um den langen Hals der Bäume ist unten ein schwerer Asphaltring gelegt, der Kopf strebt nach oben, heraus aus der Asphaltschlucht, zum Himmel. Aber es ist bekanntlich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht bis dahin wachsen. Unerreichbar hoch ist der Himmel, eigentlich nur ein Stück, das zwischen zwei Häuserreihen sichtbar ist, eine Großstadtration, aber immerhin abendlich und rein.

Kommen vor Einbruch der Dunkelheit noch rasch die Flieger mit ihrer Rauchschrift? Vorderhand steht dort oben, blau in blau geschrieben, das Wort „Sommer“; ist das der Name des neuen Brausepulvers? Kaum – denn diese Schrift oben ist so, daß sich da unten nur wenige lesen können, eine schlechte Reklame. Oben ist ferner der Wind (bekanntlich das Kind des Himmels), kurz vorher hat er den Harz besucht oder die Ostsee, nun bringt er von dorther etwas Ozon oder salzige MeerIuft, ein paar kleine Besuchsgeschenke, die er in der Nacht, wenn er durch die Fenster der Schlafenden steigt, in deren Träume mischen wird.

Vorderhand besucht er flüchtig die Bäume. So, von ihm bewegt und vor dem Hintergrund des Himmels, sehen sie einen Augenblick aus wie wirkliche Baume, da singt auf einem Ast sogar ein garantierter Vogel, und da kommt auch ein großer roter Schmetterling, wie direkt aus der Landschaft oder aus dem Märchen – aber nein, das ist doch nur ein Fahrschein von einem Autobus.



Quelle: „Einhundertfünfzig pro Minute“, Berliner Tageblatt (4. September 1928); abgedruckt in Potsdamer Platz, Drehscheibe der Welt, hrsg. von Günther Bellman. Berlin: Ullstein Buchverlage, 1997, S. 121-24.