GHDI logo

Carl von Clausewitz: Auszüge aus Vom Kriege (1832)

Seite 21 von 29    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Es würde sehr überflüssig sein, die Masse der Ereignisse zu durchlaufen, wo Veränderungen, welche das Gleichgewicht zu sehr störten, durch mehr oder weniger offenbare Entgegenwirkung der anderen Staaten verhindert oder rückgängig gemacht worden sind; der flüchtigste Blick auf die Geschichte zeigt sie. Nur von einem Fall wollen wir sprechen, weil er stets im Munde derer ist, die den Gedanken eines politischen Gleichgewichts verspotten, und weil er ganz besonders hierher zu gehören scheint als ein Fall, in welchem ein harmloser Verteidiger unterging, ohne die Teilnahme eines fremden Beistandes zu gewinnen. Wir sprechen von Polen. Daß ein Staat von 8 Millionen Einwohnern verschwinden, von drei anderen geteilt werden konnte, ohne daß von einem der übrigen Staaten ein Schwert gezogen wurde, erscheint auf den ersten Blick als ein Fall, der entweder die allgemeine Unwirksamkeit des politischen Gleichgewichts hinreichend bewiese oder wenigstens zeigte, wie weit sie in einzelnen Fällen gehen könne. Daß ein Staat von solchem Umfang verschwinden und anderen zur Beute werden könnte, die schon zu den mächtigsten gehörten (Rußland und Österreich), schien ein Fall der äußersten Art zu sein, und wenn ein solcher nichts von den Gesamtinteressen der ganzen Staatenrepublik aufregen konnte, wird man sagen, so ist die Wirksamkeit, welche diese Gesamtinteressen für die Erhaltung einzelner haben sollen, als eine eingebildete zu betrachten. Aber wir bleiben dabei stehen, daß ein einzelner Fall, wie auffallend er auch sei, nichts gegen die Allgemeinheit beweist, und behaupten demnächst, daß der Fall von Polens Untergang auch nicht so unbegreiflich ist, wie er erscheint. War denn Polen wirklich als ein europäischer Staat, als ein homogenes Glied in der europäischen Staatenrepublik zu betrachten? Nein! Es war ein Tatarenstaat, der, anstatt wie die Tataren der Krim am Schwarzen Meer, an der Grenze der europäischen Staatenwelt gelegen zu sein, an der Weichsel zwischen ihnen lag. Wir wollen damit weder verächtlich von dem Volk der Polen reden, noch die Teilung des Landes rechtfertigen, sondern nur die Sachen sehen, wie sie sind. Seit 100 Jahren hatte dieser Staat im Grunde keine politische Rolle mehr gespielt, sondern war nur der Zankapfel für andere gewesen. In seinem Zustand und seiner Verfassung konnte er sich auf die Dauer zwischen den anderen unmöglich erhalten; eine wesentliche Veränderung in diesem Tatarenzustand aber hätte nur das Werk eines halben oder ganzen Jahrhunderts sein können, wenn die Führer dieses Volkes dazu willig gewesen wären. Diese aber waren selbst viel zu sehr Tataren, um eine solche Veränderung zu wünschen. Ihr liederliches Staatsleben und ihr unermeßlicher Leichtsinn gingen Hand in Hand und taumelten so in den Abgrund. Lange vor der Teilung Polens waren die Russen dort so gut wie zu Haus, der Begriff eines selbständigen, nach außen abgeschlossenen Staates gar nicht mehr vorhanden, und nichts gewisser, als daß Polen, wenn es nicht geteilt wurde, zur russischen Provinz werden mußte. Wäre das alles nicht, und Polen ein Staat gewesen, der einer Verteidigung fähig war, so würden die drei Mächte nicht so leicht an seine Teilung geschritten sein, und diejenigen Mächte, die bei seiner Erhaltung am meisten beteiligt waren, wie Frankreich, Schweden und die Türkei, hätten dann ganz anders zu seiner Erhaltung mitwirken können. Wenn aber die Erhaltung eines Staates bloß von außen besorgt werden soll, so ist das freilich zu viel verlangt.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite