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Carl von Clausewitz: Auszüge aus Vom Kriege (1832)

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Wir sagen: die Tendenz des Gleichgewichts ist die Erhaltung des vorhandenen Zustandes, wobei wir allerdings voraussetzen, daß in diesem Zustande Ruhe, d. i. Gleichgewicht, vorhanden war; denn wo diese schon gestört ist, eine Spannung schon eingetreten ist, da kann die Tendenz des Gleichgewichts allerdings auch auf eine Veränderung gerichtet sein. Diese Veränderung kann aber, wenn wir auf die Natur der Sache sehen, immer nur einzelne wenige, also niemals die Majorität der Staaten treffen, und so ist es denn gewiß, daß diese ihre Erhaltung immer durch die Gesamtinteressen aller vertreten und versichert sehen, also auch gewiß, daß jeder einzelne Staat, der nicht in dem Fall ist, sich gegen das Ganze schon in einer Spannung zu befinden, bei seiner Verteidigung mehr Interessen für als gegen sich haben wird.

Wer über diese Betrachtungen wie über utopische Träume lacht, der tut es auf Kosten der philosophischen Wahrheit. Wenn diese uns die Verhältnisse erkennen läßt, in welchen die wesentlichen Elemente der Dinge zueinander stehen, so wäre es freilich unüberlegt, mit Übergehung aller zufälligen Einmischungen daraus Gesetze herleiten zu wollen, nach welchen jeder einzelne Fall geregelt werden könnte. Wer sich aber nach dem Ausdruck eines großen Schriftstellers nicht über die Anekdote erhebt, die ganze Geschichte daraus zusammenbaut, überall mit dem Individuellsten, mit der Spitze des Ereignisses anfängt und nur so tief hinuntersteigt, als er eben Veranlassung findet, also niemals auf die tief im Grunde herrschenden allgemeinen Verhältnisse kommt, dessen Meinung wird auch niemals für mehr als einen Fall Wert haben, und dem wird freilich, was die Philosophie für die Allgemeinheit der Fälle ausmacht, wie ein Traum erscheinen.

Wenn jenes allgemeine Bestreben zur Ruhe und Erhaltung des Bestehenden nicht vorhanden wäre, so würde niemals eine Anzahl gebildeter Staaten eine geraume Zeit nebeneinander bestehen können, sie müßten notwendig in einem zusammenfließen. Wenn also das jetzige Europa über 1000 Jahre besteht, so können wir diese Wirkung nur jener Tendenz der Gesamtinteressen zuschreiben, und wenn der Schutz des Ganzen nicht immer zur Erhaltung jedes einzelnen hingereicht hat, so sind das Unregelmäßigkeiten in dem Leben dieses Ganzen, die aber dasselbe doch nicht zerstört haben, sondern von ihm überwältigt worden sind.

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