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Herbert Kühn, „Expressionismus und Sozialismus” (Mai 1919)

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1910 begann die Revolution der Kunst. 1910 malte Picasso, 1910 Kandinsky, 1910 erschien die „Aktion“.

Die Kunst geht ihrer Zeit vorauf.

Gleichwie die Philosophie.

Husserl, Bergson, Eucken, Simmel — jeder Name ein Wiederfinden des Geistes, ein Wiederfinden des Menschen.

Aber noch war die Zeit nicht gekommen.

Die Materie mußte noch ihren letzten Schlag vollführen, die Explosion, den Untergang — dann war auch für die Politik der Weg ganz frei für den Glauben an den Menschen — Sozialismus.

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Der Expressionismus ist — wie der Sozialismus — der gleiche Aufschrei gegen die Materie, gegen den Ungeist, gegen Maschine, gegen Zentralisation für den Geist, für Gott, für den Menschen im Menschen.

Es ist dieselbe Geisteshaltung, dieselbe Einstellung zur Welt, die nur nach den verschiedenen Erscheinungsgebieten verschiedene Namen hat. Es gibt keinen Expressionismus ohne Sozialismus.

Es ist nicht zufällig, daß sich die neue Kunst so stark der Politik öffnet, es ist nicht zufällig, daß es Zeitschriften gibt für Politik (Sozialdemokratie) und Expressionismus.

Es ist nicht zufällig, daß sich die neue Kunst ebenso gegen den Krieg, gegen Militarismus erhebt, wie es die Besten der Sozialdemokratie taten.

Wir wollen Menschlichkeit, Einheit des Geistes, Freiheit, Brudertum des reinen Menschen, und wir verachten Grenzpfahlwahnsinn, Chauvinismus, Nationalismus.

Wie Tolstoi ist uns der Patriotismus die widerwärtigste Form der Gemeinheit, der Kleinheit, der Lüge. Aus diesem künstlichen Gezücht erwächst die Niedrigkeit der Gesinnung. Notwendig.

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Wir grüßen euch, ihr französischen Brüder, Genossen, Vereinte — dich, Barbusse, und dich, Romain Rolland, dich, J. P. Jouve, und André Gide, Henri Guilbeaux und Martinet, Duchamp und alle die anderen.

Wir grüßen euch, ihr Italiener, ihr Tschechen, Polen, Russen, Finnen, Engländer und euch, ihr Inder.

Die Künstler gehen ihrer Zeit vorauf, sie bereiten den Boden, sie graben die Herzen, sie streuen die Saat.

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Wir wollen eine neue Welt. Eine bessere Welt.

Wir wollen den Menschen!



Quelle: Herbert Kühn, „Expressionismus und Sozialismus“, in Neue Blätter für Kunst und Dichtung 2, Nr. 2, Mai 1919, S. 28-30.

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