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Philipp Scheidemann gegen die Annahme des Versailler Vertrages (12. Mai 1919)

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erlitten, verantwortlich.“ Was soll ein Volk machen, das bei Festsetzung seiner Verpflichtungen nicht mitreden darf, sondern dem man billig Gelegenheit gibt, sich zu äußern, ohne daß es an den Entscheidungen beteiligt würde? Auf dessen eigene Bedürfnisse kein Mensch Rücksicht nimmt und dessen Ansprüche man mit der Handbewegung wegstreicht: „Deutschland verpflichtet sich, keiner der alliierten und assoziierten Regierungen direkt und indirekt irgendwelche Geldforderung für irgendwelches Ereignis, das vor Inkraftsetzung dieses Vertrages fällt, vorzulegen.“

Und weil vielleicht all dieses Maß von Fesselung und Demütigung und Ausraubung noch nicht ausreicht, um jede günstige Vernichtungsmöglichkeit in Zukunft auszunützen, schließlich und endlich offen den Fuß in den Nacken und den Daumen aufs Aug’, – offen die erbärmliche Versklavung für Kind und Kindeskind: „Deutschland verpflichtet sich, alle Akte der Gesetzgebung, alle Bestimmungen und Verordnungen einzuführen, in Kraft zu setzen und zu veröffentlichen, die nötig sein könnten, um die vollständige Ausführung der oben erwähnten Festsetzungen zu sichern.“

(Lebhafte Rufe: Hört! Hört!)

Und nun genug! Übergenug!

Das, meine Damen und Herren, sind einige Beispiele der Vertragsbestimmungen, bei deren Festsetzung, wie Herr Clemenceau gestern unserer Delegation mitteilte, die Entente sich ständig von den Grundsätzen habe leiten lassen, nach denen der Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen vorgeschlagen worden sind.

(Lebhafte Rufe: Hört! Hört! und Zurufe)

Wir haben Gegenvorschläge gemacht. Wir werden noch weitere machen. Wir sehen, mit Ihrem Einverständnis, unsere heilige Aufgabe darin, zu Verhandlungen zu kommen. Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar! (Minutenlanger brausender Beifall im Hause und auf den Tribünen. – Die Versammlung erhebt sich. – Erneutes stürmisches Bravo und Händeklatschen.)

PRÄSIDENT: Ich bitte nunmehr, den Herrn Redner fortfahren zu lassen.

SCHNEIDEMANN, Präsident des Reichministeriums: Dieser Vertrag ist so unannehmbar, daß ich heute noch nicht zu glauben vermag, die Erde könne solch ein Buch ertragen, ohne daß aus Millionen und Abermillionen Kehlen aus allen Ländern, ohne Unterschied der Partei, der Ruf erschallt: Weg mit diesem Mordplan!

(Lebhafte Zustimmung)

Da und dort regt sich schon die Einsicht und die gemeinsame Menschheitsverpflichtung. In den neutralen Ländern, in Italien und England, vor allem auch – und das ist uns ein Trost in diesem letzten furchtbarsten Auflodern chauvinistischer Gewaltpolitik –, vor allem auch im sozialistischen Frankreich werden die Stimmen laut, an denen die Historiker einst den Stand der Menschlichkeit nach vierjährigem Morden messen werden.

Ich danke allen, aus denen ein empörtes Herz und Gewissen spricht, ich danke vor allem und erwidere in unvergänglicher Anhänglichkeit das Gelöbnis der Treue, das gerade jetzt aus Wien zu uns herüberschallt.

(Stürmische Bravo und Händeklatschen)

Brüder in Deutsch-Österreich, die auch in der dunkelsten Stunde den Weg zum Gesamtvolk nicht vergessen: wir grüßen euch, wir danken euch, und wir halten zu euch!

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