GHDI logo

Hannes Meyer, „Die neue Welt” (1926)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Der konstruktive Leitgedanke geht heute durch alle Domänen unsrer Ausdruckskultur. Erklärlich aus dem Gesetz menschlicher Trägheit, daß er sich zunächst überall dort eindeutiger durchsetzt, wo Griechen und Louis XIV Spuren nicht hinterließen; im Reklamewesen, im typographischen Maschinensatz, im Lichtspiel, in den photographischen Prozessen. Das neue Plakat gibt, sinnfällig angeordnet, Plakatschrift und Ware oder Warenzeichen. Es ist kein Plakat-Kunst-Werk, sondern ein optisches Sensations-Stück. Im neuen Schaufenster sind die Spannungen neuzeitlicher Materialien mit Hilfe der Beleuchtung psychologisch ausgewertet. Schaufenster-Organisation statt Schaufenster-Dekoration. Es appelliert an das so differenzierte Materialgefühl des modernen Menschen und zieht alle Register seiner Ausdruckskraft: FORTISSIMO = Tennisschuhe zu Havanazigarren zu Fleckseife zu Nussschokolade! MEZZOFORTE = Glas (als Flasche) zu Holz (als Kiste) zu Pappe (als Packung) zu Weißblech (als Büchse)! PIANISSIMO - Seidenpayama zu Batisthemd zu Valenciennes zu «L'Origan de Coty»!

Im Esperanto konstruieren wir nach dem Gesetz geringsten Widerstandes eine übernationale Sprache, in der Einheitsstenographie eine traditionslose Schrift. Am notwendigsten ist die konstruktive Denkart im Städtebau. Solange wir nicht mit der Vorurteilslosigkeit des Betriebsingenieurs an die Stadtbauprobleme herantreten, erdrosseln wir durch Ruinenkult und übernommene Vorstellungen von Straßenaxen und Blickpunkten das mondäne Leben der modernen Stadt. Die Stadt ist die vielfältigste biologische Ballung, welche vom Menschen bewußt beherrscht und konstruktiv gestaltet werden muß. Unsere heutigen Lebensansprüche sind strich oder schichtenweise von gleicher Art. Das sicherste Kennzeichen wahrer Gemeinschaft ist die Befriedigung gleicher Bedürfnisse mit gleichen Mitteln. Das Ergebnis solcher Kollektivforderung ist das STANDARDPRODUKT. Typische Standardwaren internationaler Herkunft und Gleichförmigkeit sind: der Klappstuhl, das Rollpult, die Glühbirne, die Badewanne, das Reisegrammophon. Sie sind Apparate der Mechanisierung unseres Tageslebens. Ihre genormte Form ist unpersönlich. Ihre Anfertigung erfolgt serienweise. Als Serienartikel, als Serieneinrichtung, als Serienbauteil, als Serienhaus. Das standardisierte Geistesprodukt heißt Schlager. Dem Halbnomaden des heutigen Wirtschaftslebens bringt die Standardisierung seines Wohnungs-, Kleidungs-, Nahrungs- und Geistesbedarfes lebenswichtige Freizügigkeit, Wirtschaftlichkeit, Vereinfachung und Entspannung. Die Höhe unsrer Standardisierung ist ein Index unsrer Gemeinwirtschaft.

Die Existenzberechtigung der Kunst ist unbestritten, solange der spekulative Geist des Menschen nach einem graphisch-farbigen, plastisch-konstruktiven, musikalisch-kinetischen Niederschlag seiner Weltanschauung noch Bedarf hat. (Mit Vorbedacht sprechen wir in diesem Zusammenhang nicht von den individuellen Versuchen einzelner Künstler, den «Ismen»; der Besten einer, Piet Mondrian, bezeichnete unlängst das bisher Geleistete als Surrogat einer noch zu leistenden bessern Leistung.) Die neue Gestaltung kann nur auf dem Boden unsrer Zeit und mit den Mitteln unsrer Zeit geschehen. Das Gestern ist tot: Tot die Bohème. Tot Stimmung, Valeur, Grat und Schmelz und die Pinselstriche des Zufalls. Tot der Roman: es fehlen uns Glaube und Lesezeit. Tot Bild und Skulptur als Abbild der realen Welt: im Zeitalter von Film und Photo sind sie uns Arbeitsverschwendung, und Anmaßung ist die dauernde «Verschönerung» unsrer realen Umgebung mit deren Interpretation durch den «Künstler». Tot das Kunstwerk als «Ding an sich», als «L'art pour l'art»: Unser Gemeinschaftsbewußtsein erträgt keine individualistischen Ausschreitungen.

Das Künstleratelier wird zum wissenschaftlichen Laboratorium und seine Werke sind Ergebnisse von Denkschärfe und Erfindungskraft. Das Kunstwerk von heute ist, wie jedes Zeitprodukt, den Lebensbedingungen unsrer Epoche unterworfen, und das Resultat unsrer spekulativen Auseinandersetzung mit der Welt kann nur in exakter Form festgelegt werden. Das neue Kunstwerk ist eine Totalität, kein Ausschnitt, keine Impression. Das neue Kunstwerk ist mit primären Mitteln elementar gestaltet. [ . . . ] Das neue Kunstwerk ist ein kollektives Werk und für alle bestimmt, kein Sammelobjekt oder Privilegium einzelner.

[ . . . ]



Quelle: Hannes Meyer, „Die neue Welt“, Das Werk 13, Nr. 7 (1926), S. 205-24; abgedruckt in Hannes Meyer, Bauen und Gesellschaft. Schriften, Briefe, Projekts. VEB Verlag der Kunst Dresden, 1980, S. 27-32.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite