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Das Urteil zum Lissabon-Vertrag (30. Juni 2009)

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„Wir haben die Hosen an“

Vor wem auch sonst? Karlsruhe bringt sich mit diesem einstimmig ergangenen Urteil wieder ins Spiel. Das letzte Wort, vor allem im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof, hatten sich die Richter zwar schon vor 16 Jahren im Maastricht-Urteil vorbehalten – aber das blieb Theorie. Jetzt wird Ernst gemacht: Das Urteil schreit geradezu danach, exekutiert zu werden.

Es ist allerdings eine Karlsruher Illusion zu glauben, die Letztkontrolle des Bundesverfassungsgerichts werde sich auf wenige Grenzfälle beschränken. Die Fälle warten schon, oder sie werden noch kommen: Vorratsdatenspeicherung, Altersdiskriminierung, Abtreibung, Sterbehilfe, Rettungsfolter. Hier wird noch oft von „ersichtlichen“ Überschreitungen von Kompetenzen durch Brüssel die Rede sein. Und es dürfte noch oft gerügt werden, hier werde die Menschenwürde verletzt, die doch nach deutscher Vorstellung gar nicht abwägungsfähig ist. Da mag man in Karlsruhe noch so oft die eigene Europafreundlichkeit betonen – die Botschaft lautet: Wir haben die Hosen an.


Europapolitisch viel verschlafen

Das Urteil wird nicht unwidersprochen bleiben. Haben die Verfassungsrichter nicht ein zu statisches, ein altbackenes, gar von Carl Schmitt geprägtes Verständnis von Staat und Souveränität? Aus dem Grundgesetz kann man auch anderes herauslesen. Aber den grundlegenden Konflikt zwischen dem supranationalen Staatenverbund und seinen Mitgliedern können auch die entschiedensten Befürworter der europäischen Integration nicht übertünchen: Ein staatsähnliches Gebilde mit fortbestehenden demokratischen Defiziten benimmt sich wie ein Staat gegenüber seinen Gliedern und Untertanen.

Dagegen muss gelegentlich jemand das Wort erheben. Dass dieses Wort aus Karlsruhe kommt, ist alles andere als Zufall: Seine Rechtsprechung wird beachtet, in den alten Demokratien des Westens wie auch in den bis vor kurzem noch unterjochten östlichen EU-Staaten. Und nicht zuletzt lechzen die überforderten deutschen Volksvertreter nach richterlichen Anweisungen. Es spricht für sich, dass dieses Urteil im Wesentlichen auf Antrag eines CSU-Bundestagsabgeordneten und der Linksfraktion zustande kam. Die ganz große Koalition dazwischen hat europapolitisch viel verschlafen. Deshalb ist dieser Weckruf so laut.



Quelle: Reinhard Müller, „Weckruf aus Karlsruhe“, FAZ.NET, 30. Juni 2009. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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