Die Menschen – in der Partei zumal – hängen an Helmut Kohl. Die fünfundzwanzig Jahre des Parteivorsitzenden Kohl werden mit den in Rechenschaftsberichten verschwiegenen Konten mit Sicherheit nicht ausreichend beschrieben. Das reicht vielleicht für das Finanzamt oder die Bundestagsverwaltung, nicht aber für ein Mitglied der Gemeinschaft CDU. Wir haben ganz andere Erfahrungen mit und Erinnerungen an Helmut Kohl. Die Partei hat eine Seele. Deshalb kann es für uns nicht die Alternative „Fehler aufklären“ oder „das Erbe bewahren“ geben. Wenn es um das Bild Helmut Kohls, um seine Leistungen und um die CDU geht, gehört beides zusammen. Denn nur auf einem wahren Fundament kann ein richtiges historisches Bild entstehen. Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden. Diese Erkenntnis muss Helmut Kohl, muss die CDU für sich annehmen. Und nur so wird es der Partei im Übrigen auch gelingen, nicht immer bei jeder neuen Nachricht über eine angebliche Spende angreifbar zu werden, sondern aus dem Schussfeld auch derjenigen zu geraten, die ihr Interesse an der Aufklärung der Vorgänge nur heucheln, diese Vorgänge aber in Wahrheit nur nutzen wollen, um die CDU Deutschlands kaputtzumachen.
Vielleicht ist es nach einem so langen politischen Leben, wie Helmut Kohl es geführt hat, wirklich zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen, sich völlig aus der Politik zurückzuziehen und den Nachfolgern, den Jüngeren, das Feld schnell ganz zu überlassen. Und deshalb liegt es auch weniger an Helmut Kohl als an uns, die wir jetzt in der Partei Verantwortung haben, wie wir die neue Zeit angehen. Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Auch in diesem Jahr haben wir die Wahlen nicht wegen und nicht trotz Helmut Kohl gewonnen. Wir haben sie vielmehr wegen unserer Geschlossenheit und unserer Kampagnen gegen Gerhard Schroeders chaotische Politik gewonnen. Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu dem stehen, der sie ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute.
Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen. Wie wir in der Partei aber damit umgehen, ob wir dieses scheinbar Undenkbare als Treuebruch verteufeln oder als notwendige, fließende Weiterentwicklung nicht erst seit dem 30. November 1999 begreifen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen in den Ländern und 2002 im Bund entscheiden. Ausweichen können wir diesem Prozess ohnehin nicht, und Helmut Kohl wäre im Übrigen sicher der Erste, der dies verstünde.
Wenn wir diesen Prozess annehmen, wird unsere Partei sich verändert haben, aber sie wird in ihrem Kern noch dieselbe bleiben – mit großartigen Grundwerten, mit selbstbewussten Mitgliedern, mit einer stolzen Tradition, mit einer Mischung aus Bewahrenswertem und neuen Erfahrungen nach der Ära des Parteivorsitzenden Helmut Kohl – und mit einem Entwurf für die Zukunft.
Quelle: Angela Merkel, „’Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt’“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 1999, S. 2. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.