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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den Fürstl. Amtmann, einen offenen treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude seyn, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem Fürstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er, nach dem Tode seiner Frau, zu ziehen die Erlaubniß erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh that.

Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am unerträglichsten ihre Freundschaftsbezeigungen.

Leb’ wohl! der Brief wird dir recht seyn, er ist ganz historisch.


am 22. May.

Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sey, ist manchen schon so vorgekommen und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe in welcher die thätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinausläuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Puncte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemahlt – Das alles Wilhelm macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahndung und dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.

Daß die Kinder nicht wissen warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrte Schul- und Hofmeister einig; daß aber auch Erwachsene, gleich Kindern, auf diesem Erdboden herumtaumeln, und wie jene nicht wissen woher sie kommen und wohin sie gehen, eben so wenig nach wahren Zwecken handeln, eben so durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regieret werden: das will niemand gern glauben und mich dünkt man kann es mit Händen greifen.

Ich gestehe dir gern, denn ich weiß was du mir hierauf sagen möchtest, daß diejenigen die glücklichsten sind, die, gleich den Kindern in den Tag hinein leben, ihre Puppen herumschleppen, aus und anziehen, und mit großem Respect um die Schublade umherschleichen, wo Mama das Zuckerbrod hinein geschlossen hat, und wenn sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und rufen: Mehr! – Das sind glückliche Geschöpfe. Auch denen ist’s wohl, die ihren Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige Titel geben, und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben; – Wohl dem, der so seyn kann! Wer aber in seiner Demuth erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeicht, und alle gleich interessirt sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehen; – Ja der ist still, und bildet auch seine Welt aus sich selbst, und ist auch glücklich weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freyheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann wann er will.

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