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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Letzthin kam ich zum Brunnen, und fand ein junges Dienstmädchen, das ihr Gefäß auf die unterste Treppe gesetzt hatte, und sich umsah, ob keine Kamerädinn kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah’ sie an. Soll ich Ihr helfen, Jungfer? sagte ich. – Sie ward roth über und über. O mein Herr! sagte sie – Ohne Umstände. – Sie legte ihren Kringen zurecht und ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf.


den 17. May.

Ich habe allerley Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht was ich anzügliches für die Menschen haben muß; es mögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich und da thut mir’s weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke mit einander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind? muß ich dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Theil der Zeit um zu leben, und das Bißchen das ihnen von Freyheit übrig bleibt ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!

Aber eine recht gute Art Volks! Wenn ich mich manchmal vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieße, die den Menschen noch gewährt sind, an einem artig besetzten Tisch mit aller Offen- und Treuherzigkeit sich herum zu spaßen, eine Spatzierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das thut eine ganz gute Wirkung auf mich; nur muß mir nicht einfallen, daß noch so viele andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muß. Ach das engt das ganze Herz so ein. – Und doch! mißverstanden zu werden, ist das Schicksal von unser einem.

Ach daß die Freundinn meiner Jugend dahin ist! ach daß ich sie gekannt habe! – Ich würde sagen, du bist ein Thor, du suchst, was hienieden nicht zu finden ist; aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien, mehr zu seyn als ich war, weil ich alles war was ich seyn konnte. Guter Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? Konnt ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von der feinsten Empfindung, dem schärfsten Witze, dessen Modificationen, bis zur Unart alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun! – Ach ihre Jahre die sie voraus hatte, führten sie früher an’s Grab als mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre göttliche Duldung.

Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V... an, einen offnen Jungen mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien, dünkt sich eben nicht weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich an Allerley spüre, kurz er hat hübsche Kenntnisse. Da er hörte daß ich viel zeichnete und griechisch könnte, (zwey Meteore hier zu Lande,) wandte er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den ersten Theil ganz durchgelesen und besitze ein Manuscript von Heynen über das Studium der Antike. Ich ließ das gut seyn.

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