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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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Ein schöner Traum ists vom zukünftigen Leben, da man sich im freundschaftlichen Genuß aller der Weisen und Guten denkt, die je für die Menschheit wirkten und mit dem süßen Lohn vollendeter Mühe das höhere Land betraten; gewissermaßen aber eröffnet uns schon die Geschichte diese ergötzende Lauben des Gesprächs und Umgang mit den Verständigen und Rechtschaffenen so vieler Zeiten. Hier stehet Plato vor mir; dort höre ich Sokrates freundliche Fragen und teile sein letztes Schicksal. Wenn Mark Antonin im Verborgenen mit seinem Herzen spricht, redet er auch mit dem meinigen, und der arme Epiktet gibt Befehle, mächtiger als ein König. Der gequälte Tullius, der unglückliche Boethius sprechen zu mir, mir vertrauend die Umstände ihres Lebens, den Gram und den Trost ihrer Seele. Wie weit und wie enge ist das menschliche Herz! Wie einerlei und wiederkommend sind alle seine Leiden und Wünsche, seine Schwachheiten und Fehler, sein Genuß und seine Hoffnung! Tausendfach ist das Problem der Humanität rings um mich aufgelöset, und allenthalben ist das Resultat der Menschenbemühungen dasselbe: »Auf Verstand und Rechtschaffenheit ruhe das Wesen unsres Geschlechts, sein Zweck und sein Schicksal:« Keinen edlern Gebrauch der Menschengeschichte gibts als diesen: er führt uns gleichsam in den Rat des Schicksals und lehrt uns in unsrer nichtigen Gestalt nach ewigen Naturgesetzen Gottes handeln. Indem er uns die Fehler und Folgen jeder Unvernunft zeigt, so weiset er uns in jenem großen Zusammenhange, in welchem Vernunft und Güte zwar lange mit wilden Kräften kämpfen, immer aber doch ihrer Natur nach Ordnung schaffen und auf der Bahn des Sieges bleiben, endlich auch unsern kleinen und ruhigen Kreis an.

Mühsam haben wir bisher das dunklere Feld alter Nationen durchwandert; freudig gehen wir jetzt dem näheren Tage entgegen und sehen, was aus dieser Saat des Altertums für eine Ernte nachfolgender Zeiten keime. Rom hatte das Gleichgewicht der Völker gehoben; unter ihm verblutete eine Welt; was wird aus diesem gestörten Gleichgewicht für ein neuer Zustand und aus der Asche so vieler Nationen für ein neues Geschöpf hervorgehn?




Quelle: Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Darmstadt: Joseph Melzer Verlag, 1966, S. 395-420.

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