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Hoffnungen ostdeutscher Flüchtlinge (8. August 1989)

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Kurz vor sieben Uhr fahren die beiden Busse vom Frankfurter Hauptbahnhof in Richtung Gießen ab. Im grauen Dunst des ungemütlich klammen Morgens kurven die Busse an Hochhäusern vorbei durch’s Bankenviertel Frankfurts. „Die Dresdner! Schau mal: Die sind überall, nur nicht in Dresden”, weist ein 25jähriger Mann aus Potsdam seinen Kumpel, ebenfalls aus Potsdam, auf den Bankenturm hin.

Die Menschen kommen aus allen Teilen der DDR, aus Cottbus, Potsdam, Zeitz, dem Bezirk Halle und Karl-Marx-Stadt. Die meisten haben in der letzten Juliwoche die DDR verlassen.

„Ich will irgendwohin, einen Job, eine Arbeit. Nur in ein kleines Dorf will ich nicht, die Leute sind sicher zu neugierig. Aber in Bayern sollen Arbeitskräfte gesucht werden”, meint einer gehört zu haben. Der gelernte Bäcker arbeitete jahrelang als Eisenbahnschaffner in seinem Heimatbezirk: „Jetzt möchte ich in eine Brotfabrik.”

Hinter ihm sitzt ein 21jähriger, der gerne als Tontechniker oder Elektriker beim Rundfunk arbeiten möchte. „Aber mit meiner Ausbildung? Wir sind doch Jahre zurück. Das wird wohl nichts”, sagt er und schläft vor Übermüdung ein.

„Also, wir nennen ihn ‚Gorbi’, wie ihr auch. Auch in Karl-Marx-Stadt haben wir einen hervorragenden Empfang von Westprogrammen. Aber die DDR ist still. Da bewegt sich nichts. Immer muß man sich anpassen, immer nach dem Mund reden. Die sind hoffnungslos. Um uns öffnen sich die Staaten, nur die DDR bleibt auf Kurs.” In den Nachbarländern im Ostblock sei man als Jugendlicher aus der DDR „der letzte Arsch”, meint der junge Mann. Selbst im Urlaub fühle man sich unwohl, schüttelt ein junger Facharbeiter aus Brandenburg seinen Kopf. In Lederjacke, Jeans und mit Turnschuhen gewandet, gibt er sich angesichts der gelungenen Flucht zuversichtlich. „Unabhängig und flexibel bin ich. Nichts wird mir hier passieren in der BRD.”

Sein Nachbar, ebenfalls aus Brandenburg, pflichtet ihm bei, auch wenn er seine Unsicherheit nicht verbergen will: „Ein bißchen Angst vor der Zukunft habe ich schon. Aber ich werde es packen”, macht er sich Mut. Der Selbstbewusste nebenan fügt hinzu: „Natürlich werden einige auf der Strecke bleiben. Das sind aber nur die, die nicht selbstständig denken können. Das ist halt so.”

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„Wenn jemand glaubt, man läßt so einfach ein Leben hinter sich und wenn jemand vermutet, wir kämen aus materiellen Gründen in den Westen, dann irrt der sich. Ich sage dazu nur: Ein Monat DDR wird dem auch reichen,“ beteuert ein blonder Langhaariger in kurzer Turnhose. In Gießen angekommen, wird er zunächst eine Telefonzelle ansteuern.

„Natürlich“ haben sie schon mitbekommen, daß genug Westdeutsche Ressentiments hegen und von „Flüchtlingsflut“ reden, „natürlich“ wissen sie, daß es zwei Millionen Arbeitslose in der neuen Heimat gibt. Sie wissen alle auch, daß der goldene Schein des Westens trügen kann. „Aber als ich meinem besten Freud erzählte, ich müsse jetzt unbedingt Urlaub machen und ein Transitvisum durch Ungarn hätte, da hat der nur gesagt: Mach bloß nicht, daß Du mit einem Stempel im Paß zurückkommst. Das war einmal.“

In Gießen erwartet die Flüchtlinge zunächst einmal eine „absolute Notsituation“ wie Gerald Weiß vom Hessischen Sozialministerium die Lage einschätzt. Das Durchgangslager ist mit 2000 „Belegungen“ überlastet, zum Teil müssen die Ankömmlinge in Turnhallen oder Wohncontainer einziehen. „Seit dem Bau der Mauer haben wir solch einen Flüchtlingsstrom nicht registriert. Wir können nicht hexen. Wir brauchen weitere 1000 Plätze – mindestens.“ Den Ankömmlingen ist dies egal. „Wir bleiben hier nicht lange.“



Quelle: Rüdiger Scheidges, „Sonderzug aus Pankow mit Umsteigen in Wien und Frankfurt; Sonderzug aus Pankow mit Umsteigen in Wien und Frankfurt: Flüchtlinge aus der DDR, Ihr Weg über die Grenze und die Ankunft in der Bundesrepublik“, Frankfurter Rundschau, 8. August 1989.

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