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Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Uraufführung und skandalträchtige Aufnahme durch das Publikum (20. Oktober 1889)

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LOTH, zu Hoffmann. Ach nein, du weißt ja wohl, daß ich es war, der euch nach Hause brachte, wenn ihr euch übernommen hattet. Ich hab’ immer noch die alte Bärennatur: nein, deshalb bin ich nicht so ängstlich.

HOFFMANN. Weshalb denn sonst?

HELENE. Ja, warum trinken Sie denn eigentlich nicht? Bitte, sagen Sie es doch.

LOTH, zu Hoffmann. Damit du doch beruhigt bist: ich trinke heut schon deshalb nicht, weil ich mich ehrenwörtlich verpflichtet habe, geistige Getränke zu meiden.

HOFFMANN. Mit anderen Worten, du bist glücklich bis zum Mäßigkeitsvereinshelden herabgesunken.

LOTH. Ich bin völliger Abstinent.

HOFFMANN. Und auf wie lange, wenn man fragen darf, machst du diese . . .

LOTH. Auf Lebenszeit.

HOFFMANN wirft Gabel und Messer weg und fährt halb vom Stuhle auf. Pf! gerechter Strohsack!! Er setzt sich wieder. Offen gesagt, für so kindisch . . . verzeih das harte Wort.

LOTH. Du kannst es gerne so benennen.

HOFFMANN. Wie in aller Welt bist du nur darauf gekommen?

HELENE. Für so etwas müssen Sie einen sehr gewichtigen Grund haben – denke ich mir wenigstens.

LOTH. Der existiert allerdings. Sie, Fräulein! — und du, Hoffmann! wißt wahrscheinlich nicht, welche furchtbare Rolle der Alkohol in unserem modernen Leben spielt . . . Lies Bunge, wenn du dir einen Begriff davon machen willst. — Mir ist noch gerade in Erinnerung, was ein gewisser Everett über die Bedeutung des Alkohols für die Vereinigten Staaten gesagt hat. — Notabene, es bezieht sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren. Er meint also: der Alkohol hat direkt eine Summe von drei Milliarden und indirekt von sechshundert Millionen Dollar verschlungen. Er hat dreihunderttausend Menschen getötet, hunderttausend Kinder in die Armenhäuser geschickt, weitere Tausende in die Gefängnisse und Arbeitshäuser getrieben, er hat mindestens zweitausend Selbstmorde verursacht. Er hat den Verlust von mindestens zehn Millionen Dollar durch Brand und gewaltsame Zerstörung verursacht, er hat zwanzigtausend Witwen und schließlich nicht weniger als eine Million Waisen geschaffen. Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied. — Hätte ich nun das ehrenwörtliche Versprechen abgelegt, nicht zu heiraten, dann könnte ich schon eher trinken, so aber . . . meine Vorfahren sind alle gesunde, kernige und, wie ich weiß, äußerst mäßige Menschen gewesen. Jede Bewegung, die ich mache, jede Strapaze, die ich überstehe, jeder Atemzug gleichsam führt mir zu Gemüt, was ich ihnen verdanke. Und dies, siehst du, ist der Punkt: ich bin absolut fest entschlossen, die Erbschaft, die ich gemacht habe, ganz ungeschmälert auf meine Nachkommen zu bringen.

FRAU KRAUSE.* Du! — Schwiegersuhn! — inse Bargleute saufen woarhaftig zu viel: doas muuß woar sein.


* ‘FRAU KRAUSE. Du! — Schwiegersohn! — unsere Bergleute saufen wahrhaftig zu viel: das muß wahr sein.’

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