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Hofprediger Adolf Stöcker thematisiert den Antisemitismus in der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei (19. September 1879)

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Gelegentliche Aeußerungen über dies Thema sind aus den christlich-socialen Versammlungen oft aus Parteizwecken in das große Publikum getragen; immer entstellt, übertrieben, vergiftet. Die Reporter gewisser Blätter, eine Schande für die Stadt der Intelligenz, sind ebenso unwissend als unwahr; Vieles fälschen sie aus Unverstand, das Meiste aus Bosheit. Ein Vorgang, der sich im vorigen Jahr zutrug, ist lehrreich und charakteristisch. Während meiner Abwesenheit war in unseren Versammlungen mehr als nöthig über die Juden geredet; die Judenpresse schrieb, die Christlich-Socialen seien vom Judenhaß beseelt und drängten zur Judenverfolgung. Ich kam zurück und ergriff die Gelegenheit öffentlich und feierlich zu erklären: Wir hassen Niemand, wir hassen auch die Juden nicht; wir achten sie als unsere Mitbürger und lieben sie als das Volk der Propheten und Apostel, aus welchem unser Erlöser hervorgegangen ist, aber das darf uns nicht abhalten, wenn jüdische Blätter unseren Glauben antasten und jüdischer Mammonsgeist unser Volk verdirbt, diese Gefahr zu kennzeichnen. Diese Erklärung wurde von Neuem verdreht; das ganze Elend Deutschlands – sollte ich gesagt haben – komme von den Juden. Eine Fluth von Zuschriften hagelte auf mich hernieder. Ein Berliner Jude, dessen Namen ich kenne, schrieb an mich, sein Volk sei der Favorit Gottes und wenn Christen ihre Liebe zu dem auserwählten Volke erklärten, so sei das nichts anderes, als wenn Buhlerinnen – ich will dies anständigere Wort gebrauchen – vornehmen Edelleuten ihr Herz schenkten. Ein zweiter schickte „verachtungsvoll dem bornirten Judenhetzer“ eine Schrift, in welcher ein ungläubiger getaufter Schriftsteller die Verdienste der Juden um die Wissenschaften im Mittelalter beschreibt und übertreibt. Ein Dritter aus Frankfurt a/M. beglückwünschte mich zu dem offenen Aussprechen des deutschen Schadens und unterschrieb sich: leider ein Jude.

Diese an sich unbedeutende Begebenheit ist ein recht deutliches Beispiel der Lüge, des Hochmuths und des Hasses, welche die Judenfrage bei jeder Besprechung derselben verwirren. Menschen, welche mit ihrer ätzenden Kritik Staat und Kirche, Personen und Sachen übergießen, sind höchst erzürnt, wenn ein Anderer sich erlaubt, auf das Judenthum auch nur einen prüfenden Blick zu werfen. Sie selbst überfallen jedes nicht jüdische Bestreben mit Haß und Hohn; sagt man über sie und ihr Treiben ein leises Wort der Wahrheit, so spielen sie die beleidigte Unschuld, die gekränkte Toleranz, die Märtyrer der Weltgeschichte. Trotzdem will ich es wagen, heute Abend über das moderne Judenthum offen und frei meine Meinung zu sagen. Auf lügenhafte Berichte bin ich von vorn herein gefaßt.

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