GHDI logo

August Bebel, „Die Frau und der Sozialismus” (1879)

Seite 2 von 7    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Der Mensch soll unter der Voraussetzung, daß die Befriedigung seiner Triebe keinem anderen Schaden oder Nachteil zufügt, über sich selbst befinden. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist ebenso jedes einzelnen persönliche Sache wie die Befriedigung jedes anderen Naturtriebs. Niemand hat darüber einem anderen Rechenschaft zu geben, und kein Unberufener hat sich einzumischen. Wie ich esse, wie ich trinke, wie ich schlafe und mich kleide, ist meine persönliche Angelegenheit, ebenso mein Verkehr mit der Person eines anderen Geschlechts. Einsicht und Bildung, volle Unabhängigkeit der Person, alles Eigenschaften, die durch die Erziehung und die Verhältnisse in der künftigen Gesellschaft naturgemäße sind, werden jeden davor bewahren, Handlungen zu begehen, die zu seinem Nachteil gereichen. Selbstzucht und Kenntnis des eigenen Wesens besitzen die Männer und Frauen der künftigen Gesellschaft in viel höherem Grade als die der heutigen. Die eine Tatsache, daß jene blöde Scheu und lächerliche Heimlichtuerei, über geschlechtliche Dinge zu sprechen, verschwindet, wird den Verkehr der Geschlechter weit natürlicher gestalten, als dies heute der Fall ist. Stellt sich zwischen zwei Menschen, die einen Bund schlossen, Unverträglichkeit, Enttäuschung oder Abneigung heraus, so gebietet die Moral, die unnatürlich und darum unsittlich gewordene Verbindung zu lösen. Und da alle die Verhältnisse verschwinden, die bisher eine große Zahl Frauen entweder zur Ehelosigkeit oder zum Verkauf ihres Körpers verurteilen, so kann die Männerwelt kein Übergewicht mehr geltend machen. Andererseits hat der gänzlich veränderte Sozialzustand die vielen Hemmungen und Störungen beseitigt, die heute das Eheleben beeinflussen und es so häufig zu einer Entfaltung nicht gelangen lassen oder gänzlich unmöglich machen.

Die Hemmungen, Widersprüche und Widernatürlichkeiten in der heutigen Stellung der Frau kommen immer mehr zum Bewußtsein weiter Kreise und finden in der sozialen wie in der Romanliteratur lebhaften Ausdruck; oft in verfehlter Form. Daß die heutige Ehe immer weniger ihrem Zweck entspricht, leugnet kein Denkender mehr, und so braucht man sich nicht zu wundern, daß selbst Personen die Freiheit der Liebeswahl und freie Lösung des eingegangenen Verhältnisses natürlich finden, die im übrigen nicht geneigt sind, daraus die Konsequenzen für eine Veränderung unseres jetzigen Sozialzustandes zu ziehen; sie glauben, nur den bevorrechteten Klassen die Freiheit im Geschlechtsverkehr vindizieren zu sollen. Mathilde Reichhardt-Stromberg äußert zum Beispiel in einer Polemik* gegen die frauenemanzipatorischen Bestrebungen der Schriftstellerin Fanny Lewald folgendes:


* „Frauenrecht und Frauenpflicht. Eine Antwort auf Fanny Lewalds Briefe: Für und wider die Frauen“, 2. Auflage. Bonn 1871.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite