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Die Sexualmoral der Frauen aus der Arbeiterklasse: Aus männlicher Sicht (1890)

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Ich behaupte, daß infolgedes kaum ein junger Mann oder ein junges Mädchen aus der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung, das über 17 Jahre alt ist, noch keusch und jungfräulich ist. Der geschlechtliche Umgang, auf den Tanzböden vor allem groß gezogen, ist unter dieser Jugend heute im weitesten Umfange verbreitet. Er gilt einfach als das Natürliche und ganz Selbstverständliche; von dem Bewußtsein, daß man damit eine Sünde begeht, ist selten eine Spur vorhanden. Das sechste Gebot existiert in diesem Sinne da unten nicht. Zwar mit Huren, die sich bezahlen lassen, giebt man sich fast nie ab. Das gilt als Schande, und diese selbst werden verachtet. Aber fast jeder hat seine Liebste und jede ihren Liebsten, die sich mit wenigen Ausnahmen diesen ganz selbstverständlichen Dienst thun. Daneben sucht der junge Mann, wo immer es gerade einmal geht, auch andre Mädchen zu benutzen, die sich ihm dazu hergeben, was wiederum nicht schwer und selten ist. Gleichwohl hat auch die schon einen kleinen Makel in vieler Augen an sich, die sich gleich bei der ersten Bekanntschaft gebrauchen läßt. Mit dieser „geht man“ dauernd wenigstens nicht. Wird eine dann schwanger, so heiratet man sich in der Regel auch, ganz gleich, ob man schon lange oder nur erst wenige Wochen beisammen ist, ob man sich kennt oder nicht, ob man etwas taugt oder nicht, zusammenpaßt oder nicht. So treiben der Zufall, der Geschlechtsgenuß und seine etwaigen Folgen, selten echte Liebe, inneres Bedürfnis und vernünftige Überlegung die jungen Leute in die Ehe zusammen.

Und daraus vor allem erklärt sich mit der Jammer der Arbeiterehen, die Klagen aller, auch der Sozialdemokraten, die es mit den Leuten wirklich gut meinen, darüber, die Sehnsucht nach einer Erhebung, einer Emanzipation des Weibes und das neue sozialdemokratische Ideal von der Ehe. Ich verweise hier auf die Bemerkungen am Schlusse des zweiten Kapitels. Die Frau ist in der That in vieler Männer Augen nichts als das Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, ein Hindernis für das Fortkommen, höchstens, wenn es gut geht, der tüchtige Haushaltungsvorstand, der energisch auch den Mann im Zaume hat. Die Ehe ist nach der Äußerung mehrerer meiner Arbeitskollegen die „letzte und größte Dummheit, die einer machen kann.“ In manchen Familien ist es ja besser, und zwischen manchen Gatten tritt allmählich sogar einige gegenseitige Achtung und Zuneigung ein. Ja ich fand trotz alledem auch mehrere wirklich schöne, durch ernste Liebe vertiefte Ehen: aber im allgemeinen gilt doch die Thatsache, daß die Frau dort unten von den Männern unendlich viel niedriger geschätzt, viel weniger geachtet, viel schlechter behandelt wird als in den andern Ständen. Sie wird hart gehalten und sehr häufig geschlagen. Dabei fordert der Mann von ihr ehrliche Treue, ohne sich selbst ihr zu einem Gleichen verpflichtet zu fühlen. Auch sonst zeigt sich überall ein großer Mangel des Bewußtseins der gegenseitigen sittlichen Pflichten, die die Ehe vorschreibt.




Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig: Grunow, 1891, S. 202-7.

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