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Die Beschreibung der antisemitischen Verfolgung und der „Kristallnacht” sowie ihrer Folgen in der Region Stuttgart durch den amerikanischen Konsul Samuel Honaker (12. November und 15. November 1938)

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Bildlich ausgedrückt wurde mein Haus von Besuchern und Telefonanrufen bombardiert, die mir die erschreckenden Umstände, in denen sich die Menschen derzeit befinden, zur Kenntnis brachten. Hunderte appellieren um Hilfe und Ermutigung, und da ihre Männer in Konzentrationslager verschleppt wurden, sind viele mittellos. Gestern bat mich eine über sechzigjährige Amerikanerin spät nachts um Hilfe, um den Aufenthaltsort ihres alten und kranken Mannes herauszufinden, der zusammen mit den deutschen Juden abgeholt wurde. Ich bin zuversichtlich, dass er in wenigen Stunden an ihrer Seite sein wird. Viele Amerikaner richten sich an mich im Namen ihrer jüdischen Verwandten.

Das Konsulat erhielt gestern fast hundert Telegramme und nahezu ebenso viele heute. Viele kommen aus den Vereinigten Staaten, und ihre Verfasser sind voller Sorge um ihre Verwandten in Deutschland. In der Mehrheit der Fälle wurde ermittelt, dass sich die betroffenen männlichen Familienmitglieder in Konzentrationslagern befinden. Sogar bis eben wurden Menschen in Stuttgart verhaftet, und andauernd kommen Telegramme herein, obwohl es spät nachts ist.

Mehr als fünf Tage lang war das Büro von Menschen überschwemmt. Jeden Tag stürmte eine immer größere Menge das Konsulat, füllte alle Räume und ergoss sich auf den Korridor des fünfstöckigen Gebäudes. Heute waren es mehrere Tausend. Jede Person erhielt unsere größtmögliche Anteilnahme, und jeder muss gespürt haben, dass man ihn oder sie so höflich und empathisch, wie es die gigantische Menschenmenge erlaubte, behandelte.

Das gesamte Personal geht mit der Herausforderung, vor die wir gestellt sind, überaus loyal und effizient um. Unter den leitenden Angestellten, von denen alle unter den schwierigen Bedingungen gut arbeiten, möchte ich vornehmlich Konsul L’Heureux herausheben, und nach ihm Vizekonsul Spalding. Unter den Büroangestellten fällt besonders Mr. Morton Bernath auf.

Die gegenwärtige Lage ist für uns in Stuttgart nicht vollkommen neu. Während jetzt alles eine viel größere Dimension angenommen hat, haben wir in den vergangenen drei Jahren ähnliche, wenn auch weniger dramatische Situationen erlebt, von denen manche rückblickend viel schwieriger erscheinen und ein höheres Maß an Einfallsreichtum erfordert zu haben scheinen. In der Tat habe ich viele Schutzmaßnahmen mit der tüchtigen Hilfe von Morton Bernath bearbeitet, darunter Verhaftungen wegen politischer Vergehen, Geldwechselübertretungen und dergleichen, und ich bin froh, berichten zu dürfen, dass wir stets erfolgreich waren. Gegenwärtig erweisen sich Fragen im Zusammenhang mit der Überweisung von Geld im Auftrag amerikanischer Staatsbürger in den Vereinigten Staaten wegen der Einstellung der deutschen Regierung als ungewöhnlich mühsam. Aber erst vor ein paar Tagen ist es uns gelungen, bei der deutschen Regierung den Verzicht auf ihren Anspruch auf das gesamte Vermögen einer älteren jüdischen Frau amerikanischer Nationalität durchzusetzen.

Ich vertraue darauf, dass meine Beschreibung zusammen mit den politischen Berichten dieses Büros, mit denen die Botschaft sehr zufrieden zu sein scheint, Ihnen eine konkrete Vorstellung von der Lage gibt, mit der wir von Zeit zu Zeit in den vergangenen drei Jahren konfrontiert waren, und Ihnen insbesondere vor Augen führt, mit welcher Situation wir es im Moment zu tun haben.

Hochachtungsvoll,
[unterzeichnet: Samuel Honaker]

Anlage: Kopie des Berichts Nr. 307



Quelle des englischen Originals: American Consul General Samuel Honaker's description of Anti-Semitic persecution and Kristallnacht and its aftereffects in the Stuttgart region (November 12 and November 15, 1938) [Die Beschreibung der antisemitischen Verfolgung und der „Kristallnacht“ sowie ihrer Folgen in der Region Stuttgart durch den amerikanischen Generalkonsul Samuel Honaker (12. November und 15. November 1938)], State Central Decimal File (CDF) 862.4015/2002, Records of the Department of State in the National Archives, Record Group 59, General Records of the Department of State; abgedruckt in John Mendelsohn, Hg., The Holocaust: Selected Documents in Eighteen Volumes, Bd. 3, New York: Garland, 1982, S. 176-89.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche von Erica Fischer

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