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Bericht von George Messersmith an das State Department [US-Außenministerium] zum gegenwärtigen Stand der antisemitischen Bewegung in Deutschland (21. September 1933)

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Ich habe das State Department in verschiedenen Berichten darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Phase der physischen Verfolgung der Juden als abgeschlossen betrachtet werden könne. Das stimmt vermutlich immer noch, doch finden vereinzelte Übergriffe auf Juden andauernd statt. Vor etwa drei Wochen wurde der Sohn einer der prominentesten jüdischen Familien Deutschlands seiner Frau tot übergeben. Der Familie wurde es gestattet, den Leichnam zu begraben, sie durfte aber nur eine Gesichtshälfte sehen. Die Mutter dieses Juden ist eine der größten Philantropinnen Deutschlands und hat während des Krieges und seither ihr beträchtliches Vermögen dazu genutzt, in großzügiger Weise zur Linderung von Leid beizutragen. Der Sohn, der offensichtlich brutal ermordet wurde, hat fünf Kriegsverletzungen davongetragen, obwohl er schon nach seiner ersten nicht mehr zur Front zurückkehren hätte müssen. Von diesen Verletzungen gesundheitlich stark angeschlagen, erwarb er mit seinem beträchtlichen Vermögen ein großes Anwesen etwa 27 Kilometer von Berlin entfernt und widmete sich der Ausbildung junger Männer zu guten Landwirten. Seine Feinde waren ein Vater und dessen Sohn, die auf dem Anwesen lebten und ihm andauernd Schwierigkeiten bereiteten; nach dem 5. März sorgten sie als Nationalsozialisten dafür, dass dieser Jude in ein Konzentrationslager kam, wo er schwer misshandelt wurde. Dank der Position seiner Familie und seines und seiner Mutter wohltätigem Wirken wurde er aus dem Konzentrationslager entlassen. Danach lebte er mit seiner Frau in Berlin, da er auf seinem Anwesen nicht mehr in Sicherheit war. Vor etwa drei Wochen wurde er an einem Samstagvormittag von der Polizei seines Wohnbezirks zur Registrierung vorgeladen. Er begab sich aufs Polizeirevier, wo ihm mitgeteilt wurde, es sei eben ein Telegramm eingetroffen, das seine Festnahme verlange, und er wurde verhaftet. Er durfte seine Frau benachrichtigen, die ihm sein Mittagessen aufs Polizeirevier brachte. Es war das letzte Mal, dass er von irgendeinem Familienmitglied lebend gesehen wurde. Am folgenden Mittwochabend klopfte ein Polizeibeamter an der Wohnungstür der Familie und forderte seine Frau auf, aufs Revier mitzukommen, man habe eine gute Nachricht von ihrem Mann. In der Zwischenzeit hatten prominente Personen ihren Einfluss genutzt, um herauszufinden, wo sich der junge Mann befand; doch er konnte selbst mit Hilfe hochrangiger Regierungsmitglieder in Berlin nicht aufgefunden werden. Die Frau begab sich zum Polizeirevier, wo man ihr sagte, ihr Mann sei tot. Sie wurde ins Leichenschauhaus gebracht, wo ein Tuch von einer Gesichtshälfte des jungen Mannes gelüftet wurde, damit sie ihn identifizieren könne. Der Leichnam wurde der Familie für das Begräbnis übergeben, sehen durften sie ihn aber nicht. Die Polizei verbreitete, dass er Selbstmord begangen hatte, indem er sich bei seiner Einlieferung ins Konzentrationslager vor einen Lastwagen warf. Tatsache ist, das ihn dieselben beiden Männer, Vater und Sohn, die ihn zuvor durch die SA und mit Hilfe der Polizei ins Konzentrationslager bringen hatten lassen, in die Hände bekamen. Wie genau er umgebracht wurde, bleibt ein Rätsel. Bemerkenswert ist, dass die SA seine Leiche bei eben jenem Polizeirevier abgab, wo er zuvor lebend übernommen wurde. Diese schrecklichen und unglaublich erscheinenden Tatsachen dieses Falles beziehe ich aus über jeden Verdacht erhabenen Quellen.

Dass Vorfälle dieser Art immer vereinzelter vorkommen, ist zweifellos wahr; es ist aber ebenso wahr, dass sie weiterhin stattfinden und dass die den Behörden durchaus bekannten Täter nicht bestraft werden.

Ich habe mich über den gegenwärtigen Status der Juden in Deutschland so breit ausgelassen, weil ich es für unabdingbar halte, dass das Department von den Einzelheiten Kenntnis nimmt. Der Reichspropagandaminister Dr. Goebbels wiederholte in seiner Rede zur Rassefrage in Nürnberg den so oft gehörten Satz, dass seit dem 5. März keinem Juden ein Haar gekrümmt wurde. Da solche Feststellungen von Regierungsverantwortlichen getroffen werden, ist es notwendig, die tatsächlichen Fakten festzuhalten.


Hochachtungsvoll

George S. Messersmith
Amerikanischer Generalkonsul



Quelle: George S. Messersmith Papers, Item 305, University of Delaware Library, Newark, Delaware. Messersmith, G.S., Berlin. Despatch No. 1596 to Secretary of State Cordell Hull, Washington, September 21, 1933 – George Messersmith’s Report to the State Department on „The Present State of the Anti-Semitic Movement in Germany“ (September 21, 1933) [Bericht von George Messersmith an das State Department (Auswärtiges Amt) zum gegenwärtigen Stand der antisemitischen Bewegung in Deutschland (21. September 1933)].

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche von Erica Fischer

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