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Robert Havemanns „zehn Thesen” zum dreißigsten Jahrestag der Gründung der DDR (1. September 1979)

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9. Die Deutsche Demokratische Republik ist auf dem Weg in die Zukunft, die Sozialismus heißt, der westdeutschen Bundesrepublik und den anderen westeuropäischen Industriestaaten weit voraus. Wenn wir hier endlich damit beginnen, den Sozialismus aufzubauen, von dem unsere eurokommunistischen Genossen träumen, so daß sie nicht mehr gezwungen sein werden, sich von unserem Sozialismus zu distanzieren, dann könnte die DDR gemeinsam mit den anderen sozialistischen Ländern zur Schrittmacherin der großen sozialistischen Wende in Europa werden. Wir müssen nur den längst fälligen zweiten Schritt tun, den Schritt in die Demokratie durch Aufhebung der unkontrollierten Herrschaft des Parteiapparats. Wir werden zwar den Partei- wie auch den Staatsapparat noch eine ganze Weile brauchen und mit allen seinen unvermeidlichen Mängeln und Widersprüchen ertragen müssen. Denn das Absterben des Staates ist ein langwieriger Prozeß. Aber er kann sich nur vollziehen, wenn jede Form willkürlicher Herrschaft durch breite demokratische Kontrolle gezügelt und im Keim erstickt wird. Unter den gegenwärtigen Bedingungen stirbt der Staat nicht ab. Im Gegenteil, er wächst und nimmt von allem Besitz, ist überall, wachsam hört er alles, sieht alles und registriert es in geheimen elektronischen Datenbanken. Er beschwört in unseren Ängsten die gespenstische Welt herauf, die Orwell in seinem Buch „1984“ beschrieben hat.

10. Der Kapitalismus ist in seine Endphase eingetreten. Bald wird es für ihn keine friedliche Lösung seiner Probleme mehr geben. Inflation, Währungswirrwarr, Massenarbeitslosigkeit, Energie- und Rohstoffkrise, Umweltverschmutzung, verschwenderische Wegwerf-Gesellschaft auf der einen Seite, auf der anderen Hunger und Elend von Hunderten von Millionen in den armen Ländern – das alles in einer Welt, die sich täglich mehr als unfähig erweist, ihre Probleme zu meistern, dafür aber auf eine einzige Sache in größter Perfektion vorbereitet ist: die Selbstvernichtung in einem nuklearen Krieg. Es ist beängstigend, wie wir die kurze Zeit, die uns noch bleibt, das große Unheil von uns abzuwenden, fast ungenutzt verstreichen lassen. In dieser Situation ist der Sozialismus unsere einzige und letzte Hoffnung. Das heißt aber: Wir dürfen nicht länger warten. Wir müssen jetzt und hier beginnen, den großen Traum des Sozialismus zu verwirklichen, getreu dem Bebel-Wort: „Ohne Demokratie kein Sozialismus, ohne Sozialismus keine Demokratie.“

Zum 30. Jahrestag der DDR einige Vorschläge für erste Schritte auf diesem Weg:

1. Aufhebung aller Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung durch entsprechende Änderungen des Strafgesetzbuches, insbesondere durch Außerkraftsetzung der verfassungswidrigen Paragraphen 106 (staatsfeindliche Hetze), 219 (ungesetzliche Verbindungsaufnahme) und 220 (öffentliche Herabwürdigung).

2. Haftentlassung und Rehabilitierung aller Personen, die nach diesen Paragraphen verurteilt wurden.

3. Abschaffung jeglicher Zensur und Auflösung des Büros für Urheberrechte.

4. Gründung eines unabhängigen Presseorgans.

5. Herabsetzung der Altersgrenze für Westreisen.

6. Veröffentlichung dieser Thesen im „Neuen Deutschland“.

Berlin. 1. September 1979.



Quelle: Robert Havemann, „So schwindet der letzte Rest des Vertrauens dahin…“ (1. September 1979), Frankfurter Rundschau, 3. Oktober 1979.

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