Euer Exzellenz sehen, es würde sich um einen coup de désespoir handeln, aber vielleicht um die einzige Chance. Denn auch bei dem strategisch defensiven Verhalten liegt unsere Chance nur in dem Zeitgewinn und in der Hoffnung auf Alliierte. Dieses auch nur, wenn außer der russischen die französische Flotte hinzutritt. Ich bezweifle zwar keinen Augenblick, daß England auch dann alle Wahrscheinlichkeit des Sieges für sich hat, aber es wäre doch eine sehr unangenehme Komplikation, die aus dem kleinen Krieg mit Deutschland entstehen würde.
Euer Exzellenz werden aus dem offensiven Fall, den ich skizziert habe, ohne weiteres selbst entnehmen, daß zu seiner völligen Beurteilung eine genaue Gegenüberstellung der Kräfte u. gegenseitigen Mobilmachungszeiten notwendig ist, ferner eine genaue [unleserlich] Untersuchung der Themse durch deutsche Seeoffiziere, um ein einigermaßen richtiges Urteil darüber zu gewinnen. Euer Exzellenz werden aber die Richtung erkennen, in der zunächst zu arbeiten sein würde und werden erkennen, wie ich z. Z. das Kräfteverhältnis schätze. Die Zeitungen sprechen bei uns wie der Blinde von der Farbe, wenn von der Kriegsmacht Englands die Rede ist. Euer Exzellenz haben durchaus recht, die Politik wird in England von Handelsinteressen geleitet. Die ‹City› macht die englische Politik. Das ändert aber nicht, daß wir mit diesem Umstand rechnen müssen. Sobald wir nicht wie jetzt eine Zahl teils veralteter, teils nicht seefähiger Schiffe, sondern zwei bis 3 moderne Geschwader mit dem Zubehör an Kreuzern haben, und in dem alten Material eine Art Materialreserve in zweiter Linie besitzen, so wird Deutschland der an der Themse gelegenen City mit einem Schlage als ein Staat erscheinen, auf den man Rücksicht zu nehmen hat unter allen Umständen u. für alle Fragen.
Die Schiffe in Ostasien werden voraussichtlich nicht zurückgeholt werden, gegen England vermehren sie unsere Chancen nicht, und ihr Zurückziehen würde noch mehr kenntlich machen, daß wir auch dort uns zwischen zwei Stühle gesetzt haben. Im ganzen ist die Tendenz vermehrter Auslandsvertretung in Berlin vorhanden. Ich habe dafür auch noch ein Wort eingelegt. Wir besitzen nur keine Schiffe für diesen Zweck, während wir für den heimischen Krieg gegen Frankreich das Kreuzergeschwader freilich schwerlich entbehren würden.
Euer Exzellenz bitte ich den etwas lang ausgesponnenen Gedankengang in Vorstehendem geneigtest mir zugute halten zu wollen. Die Sache hat mich aber sehr beschäftigt.
Quelle: Brief des Kontreadmirals Tirpitz an Admiral v. Stosch vom 13. Februar 1896 zur politischen Funktion und Bedeutung von Seemacht gegenüber England. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Nachlaß Tirpitz N 253/321.
Abgedruckt in Volker Berghahn und Wilhelm Diest, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik: Grundlegende Dokumente 1890-1914. Düsseldorf, 1988, S. 114-17.