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Der passive Widerstand der ostdeutschen Bevölkerung aus der Sicht einer Beobachterin aus dem Westen (1982)

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Das Gefühl des DDR-Bürgers für Zeit ist von besonderer Art. Das russische »wsjo budjet«, es wird schon werden, ist zur Mentalität geworden. Das amerikanische »time is money« kommt niemand in den Sinn. Langjährige Erfahrung lehrt, daß es in der zentral geleiteten Wirtschaft vollkommen sinnlos ist, sich bei der Arbeit »zu überschlagen«. Arbeitet man schnell, ist das Material schnell verbraucht, es stoppt die Zulieferung, es entstehen Wartezeiten. Schafft man sein Pensum vorfristig, muß man dennoch die Arbeitszeit absitzen. Die herausgearbeitete Sekunde schlägt auf dem persönlichen Konto nicht zu Buche. Deshalb hat sich eingebürgert, Arbeit erst einmal zu horten, dann läßt sich besser mit ihr umgehen. Variante eins: Die überdimensional angehäufte Arbeit wird termingerecht erledigt, das beweist, wie tüchtig man ist, es winkt die Prämie. Variante zwei: Die überdimensional angehäufte Arbeit wird durch Überstunden oder Sonderschichten geschafft, das bringt Zuschläge und Prämien. Variante drei: Die überdimensional angehäufte Arbeit wird überhaupt nicht geschafft, man fordert Aushilfskräfte oder zusätzliche Planstellen, also weitere Arbeitskräfte an. Alle drei Arten, mit Arbeit umzugehen, bringen dem Werktätigen Vorteile. Alles schnell zu erledigen und dann herumzusitzen, Wartezeiten zu einem Zeitpunkt zu haben, zu dem man sie nicht für Persönliches nutzen kann, widerspricht dem »sozialistischen Gang«. Lehrlinge, wenn sie in die Praxis kommen, lernen als erstes: »Hier geht alles seinen sozialistischen Gang.« Eben »wsjo budjet«, es wird schon alles werden – Rußland ist groß und der Zar ist weit.

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Quelle: Irene Böhme, Die da drüben. Sieben Kapitel DDR. Berlin (West), 1982, S. 28 ff.; abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland, 1945-1990. München, 1993, S. 407-09.

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